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Werktags - ORF

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Herr P. beruhigt sich wieder und beobachtet weiter wie Karstens Oberkörper im Takt seines<br />

etwas unkoordinierten Wischens vor der Scheibe auf und ab geht. Nicht eigentlich aus<br />

besonderem Interesse, sondern, weil er nicht anders kann, schließlich steht Karsten vor seiner<br />

Fensterscheibe.<br />

Fälschlicherweise führt Herr P. Karstens ausladende Schultern auf dessen jahrelange Tätigkeit<br />

als Fensterputzer zurück, denn er weiß nicht, dass Karsten einfach nur ein gut aussehendes<br />

dummes Arschloch ist, das heute zum ersten Mal in seinem Leben Fenster putzt und eigentlich<br />

BWL studiert. Nein, in Herrn P.s Augen wird Karsten plötzlich sogar zum russischen Einwanderer<br />

stilisiert, zum tapferen Verfechter längst vergangener marxistischer Ideale, der sauer das Brot<br />

für seine junge Familie zusammenschuften muss.<br />

Und mit einem Mal fühlt sich Herr P. so unglaublich unwohl in seinem Chefsessel. Es ist, als<br />

würde der andere durch das verspiegelte Glas zu ihm hineinsehen. Er fühlt sich ertappt und<br />

beobachtet, ja durch diesen Blick tief gedemütigt. Dieser Blick auf seinen Schreibtisch, in sein<br />

Büro, in sein Leben. Herrn P. jagt ein Schauer über den Rücken. Trotzdem kann er sich nicht<br />

entziehen, er ist wie gebannt. Angesichts dieses athletischen, sich schindenden Körpers treten<br />

ihm Tränen in die Augen, aus Mitleid und Bewunderung zugleich.<br />

Die Welt ist so ungerecht, denkt Herr P. Und er schämt sich, auf seinem dicken Hintern zu<br />

sitzen und aus Langeweile Pralinen aus dem Papier zu pulen, um sie anschließend wieder<br />

einzupacken.<br />

Aber ist die Welt nicht ebenso ungerecht gegen ihn?, fragt sich Herr P., ist nicht er der<br />

Unglückliche? Herr P. ist dafür, dass Pränataldiagnostik und therapeutisches Klonen erlaubt<br />

werden, zumindest für Leute wie ihn. Er wäre dankbar gewesen, wenn ihm seine Eltern<br />

wenigstens die Plattfüße und den Hang zur Fettleibigkeit erspart hätten.<br />

Der Russe kann abends nach Hause gehen, zu seiner hübschen Frau, zu seiner Familie. Er<br />

kann müde vom Tagwerk ins Bett fallen, keine Schlafstörungen, kein Bettnässen, ein hartes,<br />

männliches Leben. Herr P. schnäuzt sich. Er sieht sich abends durch das sich automatisch<br />

öffnende Hoftor seines Penthouses fahren. Einsam, das McDonald‘s-Menü auf dem Beifahrersitz,<br />

während draußen die Nacht zu leben beginnt, Menschen sich fröhlich unterhalten, bis sie<br />

betrunken sind und ins Bett gehen. Wo vertrauliche Gespräche geführt werden, wo getanzt<br />

wird, gelacht, geschwitzt, gekotzt, gehurt und so weiter. Und irgendwo da draußen sitzt die<br />

junge russische Vorzeigefamilie friedlich beim Abendessen.<br />

Während Herr P. seine Burger verschlingt, träumt er von Boretsch. Für seine Ernährung hat<br />

er noch nie sonderlich viel Geld ausgegeben. Wenigstens eine Schande hat er sich nicht zu<br />

Schulden kommen lassen – er ist kein Gourmet. Aber trotzdem findet er sein Leben zum<br />

Kotzen.<br />

Karsten findet die Welt genauso ungerecht. Er wäre viel lieber in so einem Banken-Gebäude,<br />

als da draußen an der Scheibe. Karsten träumt vom Geld. Wenn er da draußen steht und<br />

schwitzt und auch nachts. Das liegt eigentlich nicht an ihm, das hat ihm nur die Gesellschaft<br />

aufgezwungen. Früher wollte er alternativ sein, aber das ist ihm längst vergangen, heute weiß<br />

er, dass man das Geld braucht, wegen dem Generationenvertrag und so weiter. Geld gegen<br />

den Hunger, vor allem gegen den emotionalen, Geld statt arbeiten, Geld um morgens Dinge<br />

zu kaufen, die man abends wieder wegwirft. Früher wollte Karsten Musiker werden, weil er<br />

dachte, dass er Talent hätte; aber das hat nicht geklappt. Jetzt will er gar nichts mehr, aber<br />

auch das ist nicht seine Schuld, das ist das Existenz- Dilemma seiner Generation.<br />

Wenn er abends nach Hause kommt, steckt er das Telefon aus, aber meistens ruft sowieso keiner<br />

an. Am Anfang war Karsten das nicht gewöhnt, diese Stille. Aber inzwischen hat auch er Routine.<br />

Er setzt sich vor den Fernseher, raucht ein paar Tüten und isst Ravioli aus der Dose.<br />

Familienglück<br />

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