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Werktags - ORF

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Verwandtschaft leben und im Gegenzug deren Häuser putzen und Essen kochen. Wäre das<br />

nicht ein kleiner Preis dafür, dass sie jeden Tag Milan selbst zum Kindergarten bringen könnte?<br />

Und überhaupt, wenn ihr wirklich so daran gelegen war, ihr Studium abzuschließen oder<br />

wenigstens öfters nach Hause fahren zu können, warum suchte sie sich nicht irgendeine Arbeit,<br />

die sie nicht derart mental verkrüppelte und jegliche Konzentration auf etwas anderes unmöglich<br />

machte? Sie war schließlich mit einem Einheimischen verheiratet, genoss alle Rechte und war<br />

nicht dumm. Es war ja nicht so, dass sie sich prostituieren hätte müssen wie viele andere<br />

Immigrantinnen. Obwohl eigentlich auch das akzeptabel wäre, so wie alles akzeptabel wäre,<br />

diente es nur einem guten, höheren Zweck, oder? Sie schlug die Decke zurück und stand auf.<br />

Mike war glücklicherweise schon eingeschlafen und schien sehr schwer aufzuwecken zu sein.<br />

Das Letzte, was Lise jetzt gewollt hätte, wäre, erklären zu müssen, was sie so spät in der<br />

Nacht nach so einem langen Tag noch vorhabe. Sie verließ das Schlafzimmer, machte leise<br />

die Tür zu und ging in die Küche. In dem Altpapierstapel kramte sie nach irgendeiner Zeitung<br />

von heute, auch eine gestrige würde es tun. Sie setzte sich damit an den Küchentisch und<br />

schlug die Stellenanzeigen auf. Irgendwo musste sie ja anfangen.<br />

Eine Tasse Tee und 40 Minuten später brachen die Linien, die die Anzeigen einrahmten, auf,<br />

verbanden sich mit anderen, blähten sich auf oder verschwanden ganz im Wald der Buchstaben.<br />

Die drei Anzeigen, die jetzt rot eingerahmt waren, blieben ihr im Augenwinkel noch sichtbar,<br />

so wie eidetische Abbildungen einer Taschenlampe im Dunkeln. Sie legte ihren Kopf auf ihre<br />

Unterarme und schloss die Augen. Fünf Minuten, länger wollte sie nicht rasten, denn sie hatte<br />

sich fest vorgenommen, noch die gesamte Zeitung durchzuackern. Schon drei Minuten später<br />

sollte sie tief schlafen, mit dem Kopf am Küchentisch, und das Letzte, was sie noch in vollem<br />

Bewusstsein denken sollte, war, dass morgen Samstag wäre. Was hieß hier morgen, heute<br />

war Samstag. Es war Wochenende. Heute, während Mike einen unbeschwerten Tag mit seiner<br />

neuen Freundin erleben, mit ihr im Wasser albern und Eis auf der Liegewiese essen würde,<br />

während Drago nach einer Woche Arbeit mit zukünftigen Werbeträgern für Sportschuhe eine<br />

naive junge Frau auf einem Fitness-Event beeindrucken würde, und während Milan von seiner<br />

Großmutter auf einer Landkarte gezeigt bekommen würde, wo sein Vater sei, würde es für<br />

Lise ein ganz normaler Werktag sein. Sie würde am Vormittag versuchen, ein bisschen zu<br />

lernen, und am Nachmittag ins „Baja California“ gehen. Danach würde sie todmüde heimkommen<br />

und ins Bett fallen. Und kurz vor dem Einschlafen würden sich noch ein paar Fragen in ihr<br />

Gehirn schleichen, die sie als letzte Bilder des Wachzustandes in den Tiefschlaf begleiten<br />

würden, genauso wie jetzt. Zum Beispiel, was Milan heute wohl den ganzen Tag getan hatte.<br />

Oder ob sie mit ihrem Abschluss eine Arbeit finden würde. Und welche Temperatur das Meer<br />

daheim jetzt hatte.<br />

Lises Freitag<br />

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