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Familienglück<br />
Nora Holländer<br />
Nachts träumt Tamara von Karsten. Dann sitzen sie zusammen an einem schönen Strand in<br />
der Abendsonne. Karsten schreibt Gedichte und Lieder, Tamara macht Skizzen, sie malt<br />
Karsten, wie er so dasitzt und schreibt. Sie streicht ihm die blonden Strähnen aus dem Gesicht,<br />
sie lehnt ihre Stirn an seine Schulter und wenn sie ihm sanft einen Kuss in den Nacken drückt,<br />
weil sie ihn nicht stören will, schmeckt die Haut nach Salz; wie das eben so ist am Meer.<br />
Oder sie fahren Rennrad in der Schweiz und in ihrem Traum ist Tamara viel schneller als Karsten<br />
und er ist stolz auf sie. Und dann essen sie Hüttenkäse auf einer Alpe.<br />
Manchmal träumt sie auch, wie es wäre, wenn Karsten zurückkäme, jetzt nachdem alles<br />
passiert ist. Wie es wäre, wenn sie eine Familie wären, wie es wäre, wenn Karsten jetzt plötzlich<br />
an der Tür klingeln würde.<br />
Im Traum findet Tamara es gar nicht so schrecklich, wie es ihr sonst vorkommt, dann ist es<br />
sogar richtig schön, mit Karsten und Timon zusammenzuleben und sie träumt, dass sie zu<br />
dritt in der kleinen Wohnung einen Kuchen backen zu Timons erstem Geburtstag. Einen<br />
Kirschkuchen, und Karsten hat die Augenbrauen voller Kuchenteig. Sie spucken die Kirschkerne<br />
um die Wette aus dem Dachfenster und Tamara ist auch ganz voller Kuchenteig, aber trotzdem<br />
sieht sie sehr schön aus, weil ihre Augen leuchten. Ihr Haar glänzt, sie ist ein bisschen rundlich<br />
um die Hüften, ihre Fingernägel sind nicht abgekaut und sie ist glücklich.<br />
Dann wacht Tamara auf. Da, wo früher Karsten gelegen hat, liegt jetzt ein riesiger Haufen<br />
ungebügelter Wäsche. Alles in Ordnung, sagt sich Tamara. Kein Kirschkuchen und niemand<br />
vor der Tür. Ein ganz normaler Tag. Ein Dienstag, man kann in die Stadt gehen und Besorgungen<br />
machen. Tamara seufzt. Ihre Arme, die unter ihrem Kopf lagen, sind eingeschlafen und taub.<br />
Tamara weckt die Arme, lieblos, mit spitzen kleinen Kniffen und schlägt die Bettdecke zurück.<br />
Vor ihr liegen ihre kleinen haarlosen Beine, zerbrechlich sehen sie aus, wie Streichhölzer und<br />
mittlerweile so dünn, dass sie jeden einzelnen Knorpel ihrer Kniegelenke erkennen kann. Tamara<br />
bewegt ein Bein und sieht zu, wie die Sehnen springen.<br />
Dann lacht sie es aus, das kleine, lächerlich dünne Streichholzbein, das immer noch ein<br />
bisschen braun ist vom Sommer; von einem Sommer mit Karsten, der zum Glück nicht vor<br />
der Tür steht.<br />
Wenig später schreit Timon und Tamara schwingt die Beine aus dem Bett, sie vergisst Karsten,<br />
das Meer, die Kirschkerne und Käse-Alpe, der Tag beginnt und die Beine müssen laufen.<br />
Mittags, wenn Timon schläft, sitzt Tamara auf der Balkonbrüstung und raucht. Manchmal<br />
kommt es dann, dieses Gefühl von innen heraus, ein Schwindel, dieses Gefühl wie tote Katze,<br />
das Gefühl, keine Kraft mehr zu haben und Tamara muss sich zum Weiteratmen zwingen. Alles<br />
ist so schwer. Sie sieht ihre Arme an, aus denen die Adern hervortreten, mit empirischem Blick,<br />
und sie fühlt sich so lebendig, wie ein aufgepiekster Schmetterling. Dann fragt sich Tamara,<br />
wie lange sie noch weitermachen können wird wie bisher und sie weiß, dass etwas passieren<br />
muss. Aber was?<br />
Nach ein paar Minuten erholt Tamara sich wieder. Sie geht in die Küche und trinkt Kaffee mit<br />
Süßstoff. Das Telefon klingelt und es ist Silke, Tamaras Freundin, die wissen will, wie es Tamara<br />
geht. Tamara geht es gut. Noch kann sie weiter boxen und solange sie kann, wird sie wollen;<br />
sie wird sogar noch wollen, wenn sie nicht mehr kann. Und wenn sie nicht mehr kann, wird<br />
sie einfach mit einem Schlag alles fallen lassen und abtreten.<br />
Familienglück<br />
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