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Werktags - ORF

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Die Barfrau findet es großartig, und wir blicken um uns und versuchen festzuhalten, was weiter<br />

passiert.<br />

Die Menschen heben die Arme, sie rufen Paul zu, er schüttet Bier in die Menge, wir alle gehören<br />

zusammen, das Blut fließt durch unsere Adern, wir sind glücklich, weil wir Blutsbrüder sind.<br />

Es ist ein Fest für uns alle, die anderen Menschen und Paul, die Barfrau und uns. Nur der<br />

langhaarige Barkeeper kann das Glück nicht begreifen. Er versteht nichts von Liebe und kommt<br />

an unseren Tisch. Dann beginnt er mit uns zu singen, aber es ist kein Singen, er schreit. Der<br />

schöne Mensch versucht eine Antwort in Form einer Verszeile mit anmutig klingenden Worten,<br />

der Coder skizziert eine Antwort in Form von mathematischen Formeln, es geht hin und her,<br />

Barkeeper, Coder, schöner Mensch, Coder, Barkeeper, aber er will nicht verstehen, er kann<br />

nicht begreifen, dass wir von Liebe reden und unsere Blutsbrüderschaft der Schönheit des<br />

Augenblicks dient. Wir alle gehören zusammen, sagen wir zu ihm, aber der Barkeeper schüttelt<br />

den Kopf, wir zeigen ihm Schnitte und Narben an unseren Händen, an den Pulsadern, wo<br />

unser Blut sich vereint, aber der Barkeeper will sich nicht freiwillig bekehren zu einem Verständnis<br />

der Dinge, die passieren, wenn Paul sich verliebt.<br />

„Hast du noch nie jemand ritzen gesehen?“ fragt der schöne Mensch, ohne noch weiter zu<br />

zaudern.<br />

Der langhaarige Barkeeper sieht uns verständnislos an. Also zieht der schöne Mensch eine<br />

Rasierklinge aus seiner Hose und die Schnitte sind kurz und fast ohne Schmerzen, das Ganze<br />

geht so: Wir halten den Barkeeper fest, drücken die Hände aneinander, der Barkeeper wehrt<br />

sich ein bisschen, das ist so üblich, dann wird er geritzt. Er blutet und es sieht aus, als ob er<br />

lacht. Vielleicht weint er. Dann wird er leiser und müde. Das alles geht schnell. Wir tragen ihn<br />

durch die singenden Menschen hindurch vor die Eingangstür und legen ihn hin. Er ist nicht<br />

sehr schwer. Wir bleiben nicht lange. Wir sind bald wieder zurück.<br />

Der schöne Mensch sagt: „Jetzt wird er verstehen.“<br />

Die Liebe ist ein einzigartiges Fest.<br />

Die Menschen tanzen. Einige schreien. Manche lachen und weinen. Sie berühren ihre Gesichter<br />

und Körper, greifen nach ihren Getränken, Haare streichen an Wangen, Hände fingern nach<br />

Händen, Augen fallen in Augen, fallen in Münder, Zungen berühren, ertasten, drehen sich im<br />

Takt der Musik. Die Barfrau und Paul sehen sich an. Dann lächeln sie. Dann sagt er etwas,<br />

sagt sie etwas, fragt er etwas, fragt sie etwas. Der Rest ergibt sich. Sie berührt sein Gesicht,<br />

streicht ihm über die Schultern, nimmt seine Hand. An die Müdigkeit des Barkeepers wird nicht<br />

mehr weiter gedacht.<br />

In der Musik sind die Körper der Menschen bald zu einem einzigen Körper zusammengewachsen,<br />

wie ein großes Tier mit unzähligen Gliedmaßen, das sich nach allen Richtungen streckt. Jemand<br />

trägt eine Peitsche bei sich, schlägt auf uns ein, wir spielen, zerren uns an den Haaren, wir<br />

küssen und schlagen uns gegenseitig, dann auf einzelne Teile des Tieres, das wir nun sind.<br />

Wir schließen die Augen und sind glücklich. Das ist jetzt alles. Was wir sehen, ist die Welt und<br />

was wir sehen, sind wir.<br />

„Tut es weh?“, fragt der Coder den schönen Menschen, während er ihn peitscht.<br />

„Ein bisschen.“<br />

„Willst du, dass ich weitermache.“<br />

„Ja, sehr.“<br />

Die Dinge greifen ineinander, überlappen, verknoten, fangen wiederum an. Später im<br />

abgedunkelten Licht des Lokals sind wir die letzten Gäste, es ist fast keine Zeit vergangen,<br />

aber außer uns bleibt nichts mehr zurück. Der schöne Mensch kniet vor dem Coder und das<br />

Uhrwerk des peitschenden Coders tickt auf seiner Haut. Dann küssen sie sich. Dann seufzt<br />

die Barfrau. Paul ist verliebt und hat nur Augen für sie. Wir kennen das ja. Drinnen riecht es<br />

nach abgestandenem Rauch und draußen vor der Tür liegt der langhaarige Barkeeper. Er blutet<br />

Etwas von Paul<br />

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