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und der bald achtzigjährigen kinderlosen Kriegswitwe, die er Oma nennt, am Standesamt<br />
Margareten seine hochschwangere, um ein Jahr jüngere Freundin heiraten. Sein Vater und<br />
seine Mutter, die sich seit Jahren nicht gesehen haben, werden sich über den Umstand<br />
amüsieren, dass die Trauung ihres Sohnes im gleichen Standesamt stattfindet wie ihre eigene.<br />
Seine Mutter wird erzählen, wie sie sich als Schwangere bei der Fahrt zum Standesamt<br />
übergeben musste, und dabei an den gusseisernen Kanal mit der seltsamen Aufschrift denken<br />
müssen, über den sie sich vor mehr als zwanzig Jahren gebeugt hat. Bei dieser Gelegenheit<br />
wird der Großvater erwähnen, dass sie damals den roten VW Käfer besaßen, mit dem sie auch<br />
nach Italien an den Gardasee, nach Podersdorf an den Neusiedler See und nach Mariazell<br />
gefahren sind. Die kinderlose Kriegswitwe wird daran denken, wie sie in der Basilika in Mariazell<br />
betete und für ihren verstorbenen Mann, der nicht aus Russland zurückgekehrt war, eine Kerze<br />
anzündete. Die Hochzeitsgesellschaft wird sich anschließend, begleitet von Arbeitskollegen<br />
des Bräutigams und den engsten Verwandten der Braut, an den Stammtisch im Stammlokal<br />
des Bräutigams begeben, wo im Fernseher gerade die Übertragung eines österreichischen<br />
Meisterschaftsspiels läuft. Als die Bedienung die Bestellungen der eingetroffenen Gäste<br />
entgegennimmt, wird die hochschwangere Braut darauf bestehen, dass der Fernseher abgedreht<br />
wird.<br />
Einige Wochen vor Beginn der Fußballweltmeisterschaft in Italien und kurz vor der Geburt<br />
seines Urenkels starb der Großvater plötzlich und unerwartet und konnte so nicht mehr<br />
miterleben, wie Deutschland zum dritten Mal Fußballweltmeister wurde. Am dritten November<br />
des darauf folgenden Jahres, am Geburtstag ihres ersten Mannes, erlitt die über achtzigjährige<br />
kinderlose Kriegswitwe einen Schlaganfall, von dessen Folgen sie sich bis zu ihrem Tod nicht<br />
mehr erholen wird. Das Enkelkind ihres vor einem Jahr plötzlich und unerwartet verstorbenen<br />
zweiten Mannes, dessen erste Frau sich vor fast fünfzig Jahren am Lusterhaken erhängte, wird<br />
die seit ihrem Schlaganfall auf einer Seite gelähmte kinderlose Kriegswitwe jede Woche einmal,<br />
meistens freitags, besuchen. Sie wird ihm jede Woche von ihrem ersten Mann erzählen, der<br />
am dritten November neunzehnhundertvierzehn geboren wurde und den sie einundzwanzigjährig<br />
in Wien kennen gelernt hatte und der dreißigjährig im Jahr vierundvierzig in Russland gefallen<br />
war. Sie wird ihm sogar alte Bilder von ihrem ersten Mann zeigen, die sie weiß Gott wo<br />
aufbewahrt hatte. Jedes Mal bevor er die kinderlose Kriegswitwe wieder verlässt, wird sie ihn<br />
bitten, für sie einen Lottoschein aufzugeben und die Zahlen drei, elf, vierzehn, einundzwanzig,<br />
dreißig und vierundvierzig anzukreuzen, obwohl sie noch niemals, seit der Einführung des<br />
Lottospiels, einen bedeutenden Gewinn gemacht hatte.<br />
Immer werktags<br />
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