25.10.2012 Aufrufe

Werktags - ORF

Werktags - ORF

Werktags - ORF

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Immer werktags<br />

Harald Kittler<br />

Immer werktags beschlief er die Kriegswitwe, die nebenan wohnte und deren Mann nicht aus<br />

Russland zurückgekehrt war. Immer werktags um sechs, bevor er zur Arbeit ging, nahm er<br />

sich noch eine Viertelstunde Zeit für die Kriegswitwe nebenan, während seine Frau, die er als<br />

Soldat auf dem Rückmarsch in Slowenien kennen gelernt und nach Wien mitgenommen hatte,<br />

noch im Ehebett schlief. Kurz vor sechs stand die Kriegswitwe auf, öffnete ihre Wohnungstüre<br />

und ließ sie einen Spalt breit offen, damit er eintreten konnte, ohne Lärm zu machen. Stumm<br />

schlüpfte er zu ihr in das warme Bett. Manchmal, wenn es ihr zu laut wurde, ermahnte sie ihn<br />

leiser zu sein, sonst würde er noch das ganze Haus wecken. Immer werktags, außer wenn<br />

er krank war, was sehr selten der Fall war, verließ er um viertel sieben die Wohnung der<br />

Kriegswitwe und ging zur Arbeit.<br />

Wenn er abends nach Hause kam zu seiner Frau und seiner zweijährigen Tochter war er<br />

mürrisch und sprach nicht viel. Er ging früh zu Bett, da er bereits um halb sechs wieder<br />

aufstehen musste, denn um sechs besuchte er vor der Arbeit noch für eine Viertelstunde die<br />

kinderlose Kriegswitwe nebenan. Alle anderen Mieter sprachen darüber, nur seine Frau wusste<br />

lange nichts davon, denn niemand im Haus sprach mit der Frau, die er aus dem Krieg<br />

mitgebracht hatte, mehr als die Höflichkeit gebot. An einem Werktag erhängte sich seine Frau<br />

im Schlafzimmer, während die zweijährige Tochter in der Küche auf dem Fußboden aus Linoleum<br />

spielte. Die Zweijährige stand im Schlafzimmer vor ihrer von der Decke baumelnden toten<br />

Mutter, deren Zunge aus dem Mund quoll, und rief nach ihr. Ein Nachbar schnitt die Frau vom<br />

Lusterhaken ab und brachte das Mädchen zur nebenan wohnenden Kriegswitwe, die ihr Kakao<br />

kochte und sich um sie kümmerte, bis ihr Vater aus der Arbeit kam und sie mitnahm.<br />

Im Jahr darauf wurde die Kriegswitwe seine Frau und er konnte nun werktags eine Viertelstunde<br />

länger schlafen, bevor er in die Arbeit ging. Er ging immer eine Dreiviertelstunde zu Fuß zur<br />

Arbeit, bis er sich eines Tages einen weißen VW Käfer leisten konnte. Seine nun fünfjährige<br />

Tochter, die jetzt zu seiner Frau „Mama“ sagte, durfte sogar mit ihm auf dem Fahrersitz des<br />

neuen Autos sitzen, doch er verbot ihr den glatten Schaltknüppel, den das Mädchen so gerne<br />

berührt hätte, in die Hand zu nehmen. Er hatte den weißen VW Käfer fast zehn Jahre lang und<br />

fuhr damit mehr als hundertfünfzigtausend Kilometer, bevor er ihn durch ein neueres, rotes<br />

Modell ersetzte. Mit dem roten VW Käfer, der eine breitere Heckscheibe hatte als das alte<br />

Modell und mehr PS, fuhren sie nach Italien an den Gardasee, nach Podersdorf an den<br />

Neusiedler See und nach Mariazell, wo die kinderlose Kriegswitwe in der Basilika betete und<br />

eine Kerze anzündete.<br />

Auf der Rückfahrt von Mariazell wurde der Tochter am Rücksitz des roten VW Käfers so<br />

schlecht, dass sie sich übergeben musste. Sie weinte und die kinderlose Kriegswitwe, zu der<br />

sie Mama sagte, sah sie ernst an. Als er erfuhr, dass seine siebzehnjährige Tochter schwanger<br />

war, schlug er sie zweimal ins Gesicht, bis ihre Lippe blutete.<br />

An einem Samstag gebar die Siebzehnjährige einen Sohn, während ihr Vater im neuen<br />

Schwarzweißfernseher das Weltmeisterschaftsendspiel zwischen England und Deutschland<br />

in Wembley sah und seine Frau in der Küche bügelte. Einige Monate vorher heiratete die<br />

siebzehnjährige Schwangere den neunzehnjährigen Tischlerlehrling, Vater ihres Kindes, am<br />

Standesamt in Wien-Margareten. Das Brautpaar wurde vom Vater der Braut mit dem roten<br />

VW Käfer zum Standesamt gebracht und saß auf der Rückbank, während die kinderlose<br />

Kriegswitwe auf dem Beifahrersitz stumm und ängstlich den Verkehr beobachtete. Einmal<br />

musste der rote VW Käfer die Fahrt unterbrechen, da der Schwangeren übel wurde. Sie stieg<br />

aus und übergab sich. Das zähe Erbrochene tropfte über die Kante eines gusseisernen Kanals<br />

Immer werktags<br />

47

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!