BAHN EXTRA ICE: Superzug mit Schattenseiten (Vorschau)
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Das Eschede-Unglück und die Folgen<br />
Das Ereignis liegt 15 Jahre zurück, das<br />
ist eigentlich eine lange Zeit. Aber<br />
leicht lassen sich die Bilder in Erinnerung<br />
rufen. Wie jenes vom <strong>ICE</strong> <strong>mit</strong> seinen<br />
grotesk aufgetürmten Wagen an der eingestürzten<br />
Straßenbrücke. Auch der Name des<br />
Zuges und das Datum sind noch präsent.<br />
Am Mittwoch, dem 3. Juni 1998, verunglückte<br />
um 10:59 Uhr der <strong>ICE</strong> 884 „Wilhelm<br />
Conrad Röntgen“ auf seiner Fahrt von München<br />
nach Hamburg -Altona in Eschede bei Celle. Im<br />
14-teiligen <strong>ICE</strong> 1 befanden sich vermutlich<br />
287 Reisende. Der Zug entgleiste und prallte <strong>mit</strong><br />
voller Wucht an eine Straßenbrücke, die daraufhin<br />
einstürzte. 98 Menschen starben am Unglücksort,<br />
darunter bis auf den Lokführer und einen<br />
Zugbegleiter das gesamte Zugpersonal und<br />
zwei Signaltechniker der DB AG. Drei weitere<br />
Personen erlagen später ihren Verletzungen, mehr<br />
als 100 wurden verletzt, davon 88 schwer. Fakten,<br />
die dem Ereignis eine traurige Berühmtheit<br />
geben: Es ist das schwerste Zugunglück in der<br />
Geschichte der Bundesrepublik Deutschland sowie<br />
aller Hochgeschwindigkeitszüge weltweit.<br />
Die Rettungs-, Bergungs- und Aufräumarbeiten<br />
nahmen fast eine Woche in Anspruch. Am Nach<strong>mit</strong>tag<br />
des 9. Juni erst wurde die Strecke wieder<br />
für den Bahnverkehr frei gegeben.<br />
Der Unfallhergang<br />
Nach und nach konnte man auch er<strong>mit</strong>teln, wie<br />
der Unfall entstand. Auslöser war der Ermüdungsbruch<br />
eines Radreifens. Um 10:57 Uhr,<br />
rund sechs Kilometer vor der späteren Unglücksstelle,<br />
war er an einem Radsatz des ersten<br />
Mittelwagens gebrochen. Nach etwa 250 Metern<br />
Weg löste sich der Radreifen von der Radsatzscheibe,<br />
wurde aufgebogen und verkeilte sich im<br />
Drehgestell. Der Zug fuhr nach einer Langsamfahrstelle<br />
bei Celle beschleunigend ca. 180 km/h.<br />
Der Radreifen schlug gegen den Wagenkasten<br />
und zerstörte Schwellen und das Kabel der Linienzugbeeinflussung<br />
(LZB). Im Bahnhof Eschede,<br />
etwa 200 Meter vor der Unglücksstelle, verhakte<br />
sich der Radreifen in einem Radlenker der<br />
Weiche 2. Dieser wurde abgesprengt und in das<br />
Innere des ersten Mittelwagens gestoßen. Ein<br />
weiteres Teil durchschlug die Decke des zweiten<br />
Wagens und hob dessen erstes Drehgestell so an,<br />
dass es nach rechts abgelenkt wurde und entgleiste.<br />
Nach weiteren 120 Metern traf das Drehgestell<br />
auf die abliegende Zunge der Weiche 3.<br />
Durch die Wucht dieses Aufpralls wurde die Weiche<br />
in Rechtslage umgestellt, so dass die hinteren<br />
Achsen von Wagen 3 auf das in Fahrtrichtung<br />
rechts abzweigende Gleis gelenkt wurden und<br />
sich der Wagen selbst unter der Straßenbrücke<br />
querstellte. Mit seinem hinteren Ende zerstörte<br />
er die Pfeiler dieser Überführung. Dabei wurde<br />
er schwer beschädigt und vom folgenden Zugteil<br />
getrennt. Die Hauptluftleitungen rissen ausein -<br />
ander, eine elektrische Sicherheitsschleife löste<br />
binnen einer halben Sekunde eine Schnellbremsung<br />
des Zuges sowie das Senken des Stromabnehmers<br />
des nachlaufenden Triebkopfes aus. Der<br />
auch entgleiste Wagen 4 rutschte noch vollständig<br />
unter der herabstürzenden Brücke durch,<br />
stürzte dann aber seitlich nach rechts die Böschung<br />
hinunter. Wagen 5 wurde ab der Mitte<br />
bereits von der 200 Tonnen schweren Brücke erfasst<br />
und im hinteren Teil weitgehend zerstört.<br />
Wagen 6 wurde unter den Trümmern der Brücke<br />
begraben, die Wagen 7 bis 12 schoben sich wie<br />
bei einem Zollstock aufeinander. Der nachlaufende<br />
Triebkopf entgleiste, blieb aber weitgehend<br />
unbeschädigt. Der vordere Triebkopf fuhr allein<br />
weiter und kam ca. 600 Meter vom Fahrdienstleiter<br />
Eschede entfernt zum Stehen.<br />
Der Radreifen, der zu der Katastrophe geführt<br />
hatte, gehörte zu einem gummigefederten<br />
Radsatz der Bauart 064. Diese war ab 1992<br />
zur Reduzierung von Resonanzerscheinungen<br />
(Lärm- und Rüttelbelästigungen insbesondere<br />
im Speisewagen) der Wagenkästen von der<br />
Deutschen Bundesbahn eingeführt worden.<br />
Die Bundesbahn war eine Behörde und konnte<br />
sich so selber eine reguläre Zulassung für den<br />
Radsatz erteilen. Nach der Bahnreform hatten<br />
diese Zulassungen Bestandsschutz.<br />
Ursachen, Versagen, Konsequenzen<br />
Bei der Untersuchung des Unglücks zeigte sich,<br />
dass der Radreifen grenzwertig abgenutzt war –<br />
und dennoch die Kontrollen im <strong>ICE</strong>-Werk München<br />
passiert hatte. Zusätzlich zog das Eisenbahn-<br />
Bundesamt die Bauform generell in Zweifel. Am<br />
13. Juni 1998 untersagte es der DB AG den Einsatz<br />
von gummigefederten Radsätzen solange, bis<br />
der Nachweis der Betriebssicherheit für den<br />
<strong>ICE</strong> 1 erbracht worden sei. Zwar hat die DB AG<br />
entsprechende Unterlagen vorgelegt und es wurde<br />
im Grundsatz nie die Untauglichkeit dieser<br />
Radsätze für den <strong>ICE</strong>-Hochgeschwindigkeitseinsatz<br />
nachgewiesen. Dennoch tauschte die DB offiziell<br />
bis zum 1. November 1998 alle 2.880 Radsätze<br />
der (verbliebenen) 59 <strong>ICE</strong>-1-Garnituren<br />
gegen Vollradsätze (Monoblocradsätze) aus. Bis<br />
dahin gab es umfangreiche Ersatzverkehrsleistungen<br />
<strong>mit</strong> <strong>ICE</strong> 2 und Lok-Wagen-Garnituren.<br />
Als Konsequenz aus dem Unglück wurde die<br />
Zahl der Notausstiegsfenster beim <strong>ICE</strong> 1 und<br />
<strong>ICE</strong> 2 drastisch erhöht. Die Umrüstung von insgesamt<br />
6.195 Fenstern wurde am 31. Oktober<br />
2004 abgeschlossen. Seitdem gibt es für die Reisenden<br />
sehr viel mehr Möglichkeiten, sich <strong>mit</strong><br />
Nothammern an markierten Sollbruchstellen<br />
den Weg ins Freie zu verschaffen. Zuvor waren<br />
nur die ovalen Türfenster als Notausstiege vorgesehen,<br />
die Rettungskräfte in Eschede hatten<br />
die Wagenkästen und druckfesten Fenster <strong>mit</strong><br />
brachialer Gewalt und Spezialwerkzeug sowie<br />
Diamanttrennscheiben öffnen müssen.<br />
Weiterhin legte die Deutsche Bahn Mitte<br />
1999 ein neues Sicherheitskonzept vor. Bei zukünftigen<br />
Neubaustrecken sollte auf Weichen<br />
und Überleitungen vor Brücken und Tunneln<br />
verzichtet werden, um die Abfolge Entgleisung<br />
Monobloc statt Gummifederung: Bis Ende 1998<br />
tauschte die DB AG sämtliche Radsätze am <strong>ICE</strong> 1<br />
– Aufprall zu vermeiden. Außerdem wurden verkürzte<br />
und spezifizierte Wartungsintervalle sowohl<br />
auf Zeit- als auch auf Laufleistungen angeordnet.<br />
Die Ultraschallprüfung der Radsätze<br />
wurde verpflichtend eingeführt, ebenso ein personalintensiveres<br />
Vier-Augen-Prinzip bei wichtigen<br />
Prüfungen. Die Monobloc-Radsätze wurden<br />
bereits nach 240.000 Kilometern abgedreht.<br />
15 Jahre danach<br />
Während die Zwischenwagen des verunglückten<br />
Zuges verschrottet wurden, kommt der vordere<br />
Triebkopf 401 051 noch regulär zum Einsatz. Der<br />
hintere Triebkopf wurde im Werk Nürnberg als<br />
Ersatzteilspender genutzt und 2007 <strong>mit</strong> zwei defekten<br />
bzw. verunfallten Triebköpfen zum funktionsfähigen<br />
Triebkopf 401 573 zusammengebaut.<br />
Die Zugnummer <strong>ICE</strong> 884 wird bis heute<br />
nur noch als Bedarfsnummer verwendet, auf den<br />
Namen „Wilhelm Conrad Röntgen“ verzichtete<br />
man. Apropos Gerichtsverfahren: Obwohl die<br />
Kette menschlichen und technischen Versagens<br />
zweifelsfrei war, wurde keine Person verurteilt.<br />
In Eschede erinnert heute ein Denkmal <strong>mit</strong><br />
Baumbepflanzung an das Geschehen. Nebenan<br />
auf der Strecke fahren wieder <strong>ICE</strong>-Züge<br />
vorbei. Aber so alltäglich wie vor dem 3. Juni<br />
1998 ist es nicht mehr. Axel Witzke/GM<br />
Ein Hain und Gedenktafeln erinnern heute am Unglücksort an das Geschehen. Für jedes<br />
der 101 Opfer wurde zum Gedenken ein Kirschbaum gepflanzt<br />
Dr. Stefan Vockrodt<br />
<strong>BAHN</strong> <strong>EXTRA</strong> 4/2013<br />
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