P-OE - UniversitätsVerlagWebler
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P-<strong>OE</strong><br />
O. Reis & S. Ruschin • Zur Vereinbarkeit von Prüfungssystem und Kompetenzorientierung<br />
se in die Verfahrensexpertise wechseln und darauf achten,<br />
dass sie Möglichkeitsräume eröffnet, die der Prüfling nutzten<br />
kann. Der Prüfling „erlebt“ nun die Forderung aktiv<br />
„handeln“ zu müssen. Hier geschieht zweierlei:<br />
(1) Der Form nach wird die Prüfung zur symmetrischen Interaktion,<br />
der Grundstruktur nach bleibt sie asymmetrisch.<br />
Form und Struktur treten also bei der kompetenzorientierten<br />
Prüfung auseinander. Das belastet dieses<br />
Prüfungsformat erheblich und kann auch zu einer<br />
Soll-Bruch-Stelle der Prüfungsbeziehungen werden.<br />
(2) Zugleich aber werden Form und Struktur in Bezug auf<br />
das „Handeln“ des Prüflings identisch. Und genau das<br />
könnte für einen Umstieg auf kompetenzorientierte<br />
Prüfungen motivieren: Dass es Prüfenden in den klassischen<br />
Rollenskripten einfach zu offensichtlich ist, dass<br />
die Prüflinge eben nicht zeigen, was sie können, sondern<br />
nur reproduzieren, was sie gehört haben. Dieser<br />
Effekt hat eben nur bedingt etwas mit der faktischen<br />
Leistungsfähigkeit der Studierenden zu tun, sondern<br />
mehr mit dem Konstrukt, das durch die Rollenskripte<br />
entsteht. Lehrende müssten erkennen, wie unangemessen<br />
die „Handlungs“-Zuschreibung an die Studierenden<br />
und wie unangemessen die eigene „Erlebens“-Zuschreibung<br />
ist.<br />
Die Offenheit in den kompetenzorientierten Rollenskripten<br />
sorgt für einen erheblichen Leistungsdruck für alle Akteure.<br />
Für den Prüfling hängt nun die Leistungsbeurteilung an seiner<br />
Fähigkeit zur Bewältigung einer komplexen Situation. Er<br />
zeigt sich als Person, die in einer bestimmten Situation<br />
agiert. Die Distanz zu den Rollenskripten nimmt deshalb im<br />
Gegensatz zum klassischen Prüfungsformat ab. Auch für die<br />
Prüferin ist diese Situation komplex, da sie selbst als „Handelnde“<br />
sichtbar wird. Ihre Entscheidungen für ein Prüfungssetting<br />
und ihre Impulse sind nun<br />
Voraussetzung dafür, dass der Prüfling sein<br />
Können zeigen kann.<br />
Das ist eine außerordentliche Herausforderung<br />
denn beide Gruppen haben sich<br />
im Laufe der Bildungssozialisation Rollenskripte<br />
angeeignet, die dem klassischen<br />
Prüfungsformat entsprechen. Der<br />
Perspektivewechsel von der Wissens- zur<br />
Verfahrensexpertise macht die Prüfung zu<br />
einem sichtbar gesteuerten Akt, was für<br />
beide Akteursgruppen in den Rollenskripten<br />
die Verantwortung für den Prozess erhöht.<br />
Natürlich haben schon immer einzelne<br />
Studierende von sich aus den Weg<br />
zum Urteil gesucht und versucht in ein<br />
Fachgespräch einzusteigen. Auch einzelne<br />
Lehrende haben nicht ausschließlich W-<br />
Fragen gestellt, die auf einen eindeutigen<br />
Gegenstand zeigen sollten.<br />
Konstitutiv für das kompetenzorientierte<br />
Prüfungsformat ist, dass diese Rollenstruktur<br />
im Verfahren angelegt sein muss,<br />
um überhaupt ein verantwortetes Urteil<br />
über die Leistungen des Prüflings treffen<br />
zu können. Im Zentrum steht der Grad der<br />
Sicherheit, mit dem sich die Studierenden<br />
auf den geforderten Ebenen der Wissensreproduktion, Wissenstransformation<br />
und des Urteilens bewegt haben, so<br />
dass in einer Prüfung erkennbar das Kompetenzmodell universitären<br />
Lernens reproduziert wird (vgl. Reis/Ruschin<br />
2007, 2008). Kompetenzorientierte Prüfungen erhöhen<br />
deshalb den Veränderungsdruck auf die Lehre.<br />
2.2 Zum Verhältnis von Prüfungskonzeption und Prüfungskompetenz<br />
Es ist eine ebenso banale wie folgenreiche Erkenntnis, dass<br />
die Forderung nach Kompetenzorientierung für die Studierenden<br />
die Kompetenzanforderungen an die Lehrenden erhöht.<br />
Gefordert ist von den Lehrenden, dass sie erstens<br />
grundsätzlich eine Entsprechung von Lehren und Prüfen<br />
herstellen können und dass sie zweitens eine konzertierte<br />
Ausrichtung von Prüfungsformat, Prüfungsform und Prüfungsverhalten<br />
vornehmen können (vgl. Biggs 2007; Wehr<br />
2007, S. 187).<br />
Das erfordert, das Lehr- und Prüfungsverhalten flexibel zu<br />
variieren, so dass die Prüfungsziele auf die Lehrziele und die<br />
Tätigkeiten der Studierenden im Prozess des Lernens auf<br />
die Tätigkeiten in der Prüfung abgestimmt sind. Damit<br />
diese Tätigkeiten in der Prüfung gezeigt werden können,<br />
sind Prüfungsverfahren und Prüfungsmethode entsprechend<br />
auszuwählen. Lehrende müssen sowohl kompetenzorientierte<br />
wie klassische Rollenskripte beherrschen.<br />
Diese Flexibilität ist systematisch nicht erwartbar. Bei der<br />
Betrachtung der kognitiven Lehrkonzeptionen von Lehrenden<br />
zeigt sich, dass diese bestimmte Annahmen über den<br />
Auftrag des eigenen Lehrens und das Lernen der Studierenden<br />
zu einem stabilen Konstrukt (vgl. Abb. 1) vereinen, das<br />
die didaktischen Folgeentscheidungen erheblich beeinflusst<br />
(vgl. Kember 1997).<br />
Lehrende, die Lehren von Stufe I her denken, können in<br />
Abbildung 1: Ebenen und Dimensionen von Lehrkonzeptionen (vgl. Kember<br />
1997; nach Scheidler 2008)<br />
P-<strong>OE</strong> 1+2/2008<br />
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