2015-02
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Foto: Gudrun und Wolfgang Neuser<br />
Angesichts der großen Ungerechtigkeiten, die überall in<br />
der Welt anzutreffen sind, hat die Frage nach dem Warum<br />
nicht nur eine gesellschaftspolitisch soziale, sondern auch<br />
eine philosophisch und religiöse Komponente. So frage<br />
ich mich aktuell: Wo bleibt die Gerechtigkeit, wenn Menschen<br />
aus ihrer Heimat fliehen müssen, nur um ihr nacktes<br />
Leben zu retten, und in völlig überfüllten Schlauchbooten<br />
und unter Lebensgefahr versuchen, das Mittelmeer<br />
zu überqueren, um ins gelobte Land Europa zu gelangen,<br />
während andere Menschen im gleichen Meer, zur gleichen<br />
Zeit auf riesigen Luxusdampfern ihre Kreuzfahrten<br />
genießen können? Wo bleibt die Gerechtigkeit, wenn Kinder,<br />
deren Leben gerade erst begonnen hat, an einer unheilbaren<br />
Krankheit leiden und viel zu früh sterben müssen,<br />
während es anderen Menschen<br />
vergönnt ist, rückblickend auf ein<br />
langes und erfülltes Leben zu sterben?<br />
Wo bleibt die Gerechtigkeit,<br />
wenn das Leben eines Menschen<br />
von hier auf jetzt unerwartet endet,<br />
ohne dass er es für sich vollenden<br />
konnte? Ich könnte die Aufzählung<br />
von sozialen und schicksalhaften<br />
Ungerechtigkeiten in den Lebensläufen<br />
der Menschen problemlos<br />
fortsetzen, um am Ende zu der Feststellung<br />
zu gelangen: In dieser Welt,<br />
in der wir leben herrscht ein großer<br />
Es muss<br />
den Himmel<br />
geben,<br />
damit<br />
die Erde<br />
nicht zur<br />
Hölle wird<br />
Mangel an Gerechtigkeit, trotz vielfältiger Bemühungen<br />
und Anstrengungen von Seiten staatlicher, kirchlicher<br />
und privater Hilfsorganisationen, sowie sozialer Verbände<br />
und Einrichtungen. Die Ungerechtigkeit auf dieser Erde<br />
scheint chronisch zu sein. Sie zu beseitigen ist ein ständiger<br />
Kampf. Ist es daher nicht allzu verständlich, dass<br />
Verlangen nach einer Welt in der Gerechtigkeit herrscht,<br />
da, wo alle Ungerechtigkeiten aufgehoben sind und Angst,<br />
die große, oft verborgene Triebfeder des Menschen, keine<br />
Rolle mehr spielt. Auch hier gilt, wie bei der Suche<br />
nach Geborgenheit, die Chiffre des religiösen Himmels<br />
als eine Heimstätte bleibender Gerechtigkeit und Liebe<br />
ohne Ende. Deshalb: Es muss den Himmel geben, um die<br />
bestehenden Ungerechtigkeiten dieser Welt für immer<br />
aufzulösen und der Mensch seine wahre und endgültige<br />
Bestimmung findet.<br />
Horizont der Hoffnung –<br />
da, wo alles zueinander findet<br />
In früherer Zeit der Menschheitsgeschichte war es unmöglich,<br />
den Sternenhimmel zu betrachten, ohne von religiösen<br />
Gefühlen überwältigt zu werden. Da war das Wort<br />
Himmel gleichermaßen kosmologisch wie auch theologisch<br />
noch eine (unreflektierte) Einheit. Die Augen zum nächtlichen<br />
Himmel zu erheben war verbunden mit der Sehnsucht,<br />
sich von dieser leidvollen und ungerechten Welt fortzubewegen<br />
in eine jenseitige Welt des Göttlichen. Heute, so vermute<br />
ich, ergeht es Ihnen als Leserin oder Leser bestimmt<br />
ähnlich wie mir beim Anblick eines klaren Sternenhimmels<br />
in der Nacht. Auf der einen Seite überkommt mich - auch<br />
mit dem Wissen, dass mein Blick ja ein Blick in die Vergangenheit<br />
ist – eine tiefe Ergriffenheit, ja demütiges<br />
Staunen, vor der unermessbaren Größe des Weltalls mit<br />
seinen Milliarden Sternen und Galaxien. Ein riesiges,<br />
halbkugeliges Sternenzelt, ausgespannt zwischen den<br />
Horizonten. Auf der anderen Seite wird mir die Winzigkeit<br />
meiner Person bewusst. Ich spüre die absolute<br />
Verlorenheit und Bedeutungslosigkeit, ja Sinnlosigkeit,<br />
nicht nur meiner eigenen Person, sondern die der<br />
ganzen Menschheit. Die Kompensation dieser erschreckenden<br />
Erkenntnis ist für mich nur möglich, indem<br />
ich meinen Blick nach innen wende und in mich hinein<br />
horche. Schon Immanuel Kant (1724-1804) erkannte<br />
mit seiner berühmtenAussage: Zwei Dinge erfüllen das<br />
Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung<br />
und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken<br />
damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und<br />
das moralische Gesetz in mir. Auch für den deutschen Philosophen<br />
Hans Blumenberg (1920-1996) stand fest: ... das<br />
ist die Zweideutigkeit des Himmels, er vernichtet unsere<br />
Wichtigkeit durch seine Größe, aber er zwingt uns auch<br />
durch seine (gottlose,) 3) Leere nichts wichtiger zu nehmen<br />
als uns selbst. Daher: Die Orientierungspunkte zum Himmel,<br />
dem Ziel jeder menschlichen Wanderschaft, liegen in<br />
uns selbst. Suchen wir sie und handeln danach, denn der<br />
göttliche Himmel wird sichtbar in der Nächstenliebe.<br />
Eberhard Freundt<br />
Quellennachweis / Erläuterungen:1) Band 3/III Glauben in Freiheit, die moderne Kosmologie<br />
und die Frage nach Gott. 2) Chiffre: Als Chiffren werden Wörter bezeichnet, die<br />
als verrätselte, meist bildhafte Symbole in einem Text in einem Zusammenhang mit meist<br />
komplexen Bedeutungen aufgeladen ist.3) der Verfasser.<br />
62 durchblick 2/<strong>2015</strong>