2010-02
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Unterhaltung<br />
Der Faustschlag meines Großvaters<br />
Ein Outing<br />
Darüber darfst Du nichts schreiben! Das ist etwas<br />
aus der Familie und geht daher niemanden etwas<br />
an!“, sagte meine Hanne und ihre Stimme klang<br />
gefährlich. „Doch, ich schreibe darüber! Einmal kommt es<br />
vielleicht doch ans Licht, und da ist es besser, wenn ich<br />
vorher mit einem Artikel selbst dafür sorge.“ Meiner Antwort<br />
hatte sie noch das eine oder andere entgegenzubringen<br />
und es knisterte schon ganz leicht im Gebälk. Endlich<br />
wollte sie wissen: „Und Du glaubst tatsächlich, dass Du<br />
es bringen kannst?“ „Ja,<br />
ich kann!“, befand ich<br />
ganz ohne Hintergedanken.<br />
Bei ihr freilich fiel<br />
bei meinen drei Worten<br />
der Groschen. Immerhin<br />
hatte eine ganz ähnliche<br />
Ankündigung, wenn<br />
auch in englischer Sprache,<br />
schon einmal fünf<br />
Personen eines gewissen<br />
Komitees in Oslo überzeugt.<br />
Jedenfalls gab<br />
meine nun wieder ganz<br />
lieb gewordene Gattin<br />
mit den Worten: „Wer<br />
weiß, wofür es gut ist“,<br />
ihren Widerstand auf.<br />
Natürlich sehe auch<br />
ich die bittere Möglichkeit,<br />
dass ich es mir<br />
mit dem nachfolgenden Beitrag nicht nur mit dem einen<br />
oder anderen, sondern mit einer größeren Anzahl bislang<br />
wohlmeinender Leser verscherze. Schließlich weiche ich<br />
in einem gravierenden Punkt erheblich von der Norm ab<br />
und tendiere hierdurch leider zu einem Außenseiterdasein.<br />
Doch weil es eine Erklärung für mein sonderbares Verhalten<br />
gibt, hoffe ich auf Nachsicht - zumindest bei den<br />
Gutwilligen. Zudem zeigen Beispiele von Politikern oder<br />
Fernsehleuten, dass man es nach einem „Coming out“ noch<br />
zu hohen und höchsten Würden bringen kann.<br />
Haben Sie, großmütige Leserin, oder Sie, verständnisvoller<br />
Leser, sich schon einmal ernsthaft mit dem Begriff<br />
„Verlustängste“ befassen müssen? Ich hoffe für Sie, dass<br />
dies nicht der Fall ist. Ich hingegen schlage mich schon<br />
seit langer Zeit damit herum. In meiner Kindheit ist etwas<br />
schiefgelaufen. Jeder Psychologe wird den Grund rasch<br />
herausfinden und auch mir ist er bekannt. Ich weiß, es<br />
klingt komisch, aber es hängt mit meiner ungewöhnlich<br />
„... ein kräftiger Knabe mit dicken Backen ...“<br />
späten, eher aber noch mit meiner ganz abrupt erfolgten<br />
Entwöhnung zusammen.<br />
Die Altvorderen haben, als sie noch lebten, oft davon erzählt,<br />
dass ich zur regelmäßigen Einnahme der natürlichen<br />
Säuglingsnahrung immer noch an die Mutterbrust gewollt<br />
habe, als mein zwei Jahre jüngerer Bruder schon entwöhnt<br />
war. Dem durchdringenden Quengeln setzte meine alte Dame<br />
keinerlei Widerstand entgegen. Milch war ja genug da.<br />
Nicht zuletzt dieses sture Beharren meinerseits, gepaart mit<br />
der augenscheinlichen<br />
Sorglosigkeit meiner<br />
Mutter, führte immerhin<br />
dazu, dass aus mir in<br />
der ansonsten so armen<br />
Nachkriegszeit ein kräftiger<br />
Knabe mit dicken<br />
Backen wurde.<br />
Meine Großmutter<br />
hingegen sah sich das<br />
absonderliche Verhalten<br />
der ins Haus geschneiten<br />
Schwiegertochter lange<br />
Zeit mit zunehmendem<br />
Zorn im Bauch an. So<br />
etwas hatte es ja noch<br />
nie zuvor gegeben. Ihre<br />
Vorhaltungen, dass es in<br />
der Nachbarschaft dieserhalb<br />
schon Getuschel<br />
gäbe, machten keinen<br />
Eindruck. So bedrängte sie schließlich ihren Gatten, die<br />
unerhörte Sache mit der nötigen Entschlossenheit zu einem<br />
raschen Ende zu bringen. Er schien hierfür in besonderem<br />
Maße geeignet, denn als Hauptmann der freiwilligen Feuerwehr<br />
gab er beim wöchentlichen Exerzieren mit mächtiger<br />
Stimme die Kommandos. Doch weil er gleichzeitig<br />
als Kirchenältester der Frommste in der Familie und von<br />
daher eigentlich eher einer feinfühligeren Lösung des delikaten<br />
Problems zugetan war, zierte er sich noch ein Weilchen.<br />
Doch endlich, so die Berichte, ließ ihm die andauernde<br />
Miesmacherei seiner Angetrauten keine Wahl mehr;<br />
er schlug mit der Faust kräftig auf den Tisch und verlangte<br />
lautstark, dass meine Mutter auf der Stelle für immer die<br />
Bluse schließe. Sie gehorchte. Und prompt setzten bei mir<br />
die in der einschlägigen Literatur ausführlich beschriebenen<br />
Verlustängste ein - und sie sollten mir treu bleiben.<br />
Die Störungen führten zu allerlei Absonderlichkeiten.<br />
Derjenige, der, wie heutzutage Brauch, seine Firma und<br />
seine Frau schon mal wechselt oder sein Freizeit- und sein<br />
32 durchblick 2/<strong>2010</strong><br />
Foto: Ulli Weber