29.11.2017 Aufrufe

2010-02

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Unterhaltung<br />

Der Faustschlag meines Großvaters<br />

Ein Outing<br />

Darüber darfst Du nichts schreiben! Das ist etwas<br />

aus der Familie und geht daher niemanden etwas<br />

an!“, sagte meine Hanne und ihre Stimme klang<br />

gefährlich. „Doch, ich schreibe darüber! Einmal kommt es<br />

vielleicht doch ans Licht, und da ist es besser, wenn ich<br />

vorher mit einem Artikel selbst dafür sorge.“ Meiner Antwort<br />

hatte sie noch das eine oder andere entgegenzubringen<br />

und es knisterte schon ganz leicht im Gebälk. Endlich<br />

wollte sie wissen: „Und Du glaubst tatsächlich, dass Du<br />

es bringen kannst?“ „Ja,<br />

ich kann!“, befand ich<br />

ganz ohne Hintergedanken.<br />

Bei ihr freilich fiel<br />

bei meinen drei Worten<br />

der Groschen. Immerhin<br />

hatte eine ganz ähnliche<br />

Ankündigung, wenn<br />

auch in englischer Sprache,<br />

schon einmal fünf<br />

Personen eines gewissen<br />

Komitees in Oslo überzeugt.<br />

Jedenfalls gab<br />

meine nun wieder ganz<br />

lieb gewordene Gattin<br />

mit den Worten: „Wer<br />

weiß, wofür es gut ist“,<br />

ihren Widerstand auf.<br />

Natürlich sehe auch<br />

ich die bittere Möglichkeit,<br />

dass ich es mir<br />

mit dem nachfolgenden Beitrag nicht nur mit dem einen<br />

oder anderen, sondern mit einer größeren Anzahl bislang<br />

wohlmeinender Leser verscherze. Schließlich weiche ich<br />

in einem gravierenden Punkt erheblich von der Norm ab<br />

und tendiere hierdurch leider zu einem Außenseiterdasein.<br />

Doch weil es eine Erklärung für mein sonderbares Verhalten<br />

gibt, hoffe ich auf Nachsicht - zumindest bei den<br />

Gutwilligen. Zudem zeigen Beispiele von Politikern oder<br />

Fernsehleuten, dass man es nach einem „Coming out“ noch<br />

zu hohen und höchsten Würden bringen kann.<br />

Haben Sie, großmütige Leserin, oder Sie, verständnisvoller<br />

Leser, sich schon einmal ernsthaft mit dem Begriff<br />

„Verlustängste“ befassen müssen? Ich hoffe für Sie, dass<br />

dies nicht der Fall ist. Ich hingegen schlage mich schon<br />

seit langer Zeit damit herum. In meiner Kindheit ist etwas<br />

schiefgelaufen. Jeder Psychologe wird den Grund rasch<br />

herausfinden und auch mir ist er bekannt. Ich weiß, es<br />

klingt komisch, aber es hängt mit meiner ungewöhnlich<br />

„... ein kräftiger Knabe mit dicken Backen ...“<br />

späten, eher aber noch mit meiner ganz abrupt erfolgten<br />

Entwöhnung zusammen.<br />

Die Altvorderen haben, als sie noch lebten, oft davon erzählt,<br />

dass ich zur regelmäßigen Einnahme der natürlichen<br />

Säuglingsnahrung immer noch an die Mutterbrust gewollt<br />

habe, als mein zwei Jahre jüngerer Bruder schon entwöhnt<br />

war. Dem durchdringenden Quengeln setzte meine alte Dame<br />

keinerlei Widerstand entgegen. Milch war ja genug da.<br />

Nicht zuletzt dieses sture Beharren meinerseits, gepaart mit<br />

der augenscheinlichen<br />

Sorglosigkeit meiner<br />

Mutter, führte immerhin<br />

dazu, dass aus mir in<br />

der ansonsten so armen<br />

Nachkriegszeit ein kräftiger<br />

Knabe mit dicken<br />

Backen wurde.<br />

Meine Großmutter<br />

hingegen sah sich das<br />

absonderliche Verhalten<br />

der ins Haus geschneiten<br />

Schwiegertochter lange<br />

Zeit mit zunehmendem<br />

Zorn im Bauch an. So<br />

etwas hatte es ja noch<br />

nie zuvor gegeben. Ihre<br />

Vorhaltungen, dass es in<br />

der Nachbarschaft dieserhalb<br />

schon Getuschel<br />

gäbe, machten keinen<br />

Eindruck. So bedrängte sie schließlich ihren Gatten, die<br />

unerhörte Sache mit der nötigen Entschlossenheit zu einem<br />

raschen Ende zu bringen. Er schien hierfür in besonderem<br />

Maße geeignet, denn als Hauptmann der freiwilligen Feuerwehr<br />

gab er beim wöchentlichen Exerzieren mit mächtiger<br />

Stimme die Kommandos. Doch weil er gleichzeitig<br />

als Kirchenältester der Frommste in der Familie und von<br />

daher eigentlich eher einer feinfühligeren Lösung des delikaten<br />

Problems zugetan war, zierte er sich noch ein Weilchen.<br />

Doch endlich, so die Berichte, ließ ihm die andauernde<br />

Miesmacherei seiner Angetrauten keine Wahl mehr;<br />

er schlug mit der Faust kräftig auf den Tisch und verlangte<br />

lautstark, dass meine Mutter auf der Stelle für immer die<br />

Bluse schließe. Sie gehorchte. Und prompt setzten bei mir<br />

die in der einschlägigen Literatur ausführlich beschriebenen<br />

Verlustängste ein - und sie sollten mir treu bleiben.<br />

Die Störungen führten zu allerlei Absonderlichkeiten.<br />

Derjenige, der, wie heutzutage Brauch, seine Firma und<br />

seine Frau schon mal wechselt oder sein Freizeit- und sein<br />

32 durchblick 2/<strong>2010</strong><br />

Foto: Ulli Weber

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!