2010-02
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Unterhaltung<br />
Wahlverhalten gelegentlich ändert, wird mich im<br />
Stillen belächeln. Schließlich heißen zwei der<br />
wichtigsten Werte unserer Leistungsgesellschaft<br />
„Flexibilität” und „Mobilität”. Doch die Verlustängste<br />
verlangen genau das Gegenteil, nämlich<br />
Beständigkeit. Sigmund Freud und seine Jünger<br />
wissen, dass ein Leben hierdurch bestimmt wird.<br />
Und so stellte ich nach der Ausbildung meine Arbeitskraft<br />
immer nur ein und derselben Firma zur<br />
Verfügung; bin nun schon über fünfundvierzig<br />
Jahre lang mit meiner ersten Frau verheiratet und<br />
bei allen Wahlen bekam stets nur eine einzige Partei<br />
meine Stimme. Viele weitere Beispiele könnte<br />
ich aufführen. Andere werden mir manchmal nur<br />
zufällig bewusst. Und der letzte Beleg offenbarte<br />
sich erst vor wenigen Jahren. Niemals hatte ich bis<br />
dahin angenommen, dass dieser wahrscheinlich<br />
auch mit diesen unsäglichen und schon in der frühen<br />
Kindheit durch den Faustschlag meines Großvaters<br />
ausgelösten Verlustängsten zu tun hat.<br />
Es begann damit, dass ich das Schreiben eines<br />
früheren Schulkameraden erhielt, der ein Klassentreffen<br />
organisieren wollte. Ich sagte zu, die<br />
meisten anderen auch, und so fuhren wir an einem schönen<br />
Sommertag an die Aartalsperre. Ich erspare mir hier die mit<br />
vielen Überraschungen gespickten Einzelheiten des Wiedersehens<br />
– nur so viel: Nach einem langsamen Spaziergang<br />
einmal um den See herum landeten wir irgendwann<br />
am späten Nachmittag im Seehotel. Mit dem Abendessen<br />
würde es noch länger als ein Stündchen dauern, teilte die<br />
Kellnerin mit. Und so flossen die Gespräche der „Ehemaligen”<br />
munter. Plötzlich ergriff mein einstiger bester Freund<br />
das Wort und erklärte der staunenden Versammlung, dass in<br />
vier Wochen die Flippers in die Siegerlandhalle kämen und<br />
er etliche Eintrittskarten habe. Einige hiervon benötige er<br />
nicht und wolle sie gerne weitergeben. Gab das ein Hallo im<br />
Saal und ruck-zuck waren die Karten verteilt! Unvermittelt<br />
stimmte eine unserer Ladies ein Lied an und mit Ausnahme<br />
von mir fielen alle ein: „Es gibt“, klatsch – klatsch, „Millionen<br />
von Sternen“, klatsch – klatsch – klatsch, „unsre Stadt“,<br />
klatsch – klatsch, „die hat tausend Laternen“, klatsch –<br />
klatsch – klatsch, „Gut und Geld“, klatsch – klatsch, „gibt es<br />
viel auf der Welt“, klatsch – klatsch – klatsch, „aber dich“,<br />
klatsch – klatsch, „gibt’s nur einmal für mich.“ Noch einmal:<br />
klatsch – klatsch – klatsch – und unter vielem Gelächter<br />
war der Chorgesang der klatschenden Senioren vorbei.<br />
Warum nur musste ich ganz spontan bei deren Anblick an das<br />
berühmt-berüchtigte Duracell-Äffchen denken? Inzwischen<br />
schäme ich mich dafür, denn offensichtlich war doch ich es,<br />
der ganz einfach den Absprung wieder einmal verpasst hatte.<br />
Und da waren sie plötzlich wieder, diese Verlustängste.<br />
Ich benötigte frische Luft und ging zum See. Auf einer<br />
Bank sitzend betrachtete ich die kleinen Kräuselwellen und<br />
dachte an die Zeiten der letzten Schuljahre. Wenn meine<br />
So sah 1958 die damals siebzehnjährige Geisweiderin<br />
Brigitte Fiebig ihre „Rock-’n’-Roll-Zeit“.<br />
besten Kameraden und ich eng umschlungen in der Dämmerung<br />
auf der Straße unterwegs waren, dann wurde des<br />
Öfteren gesungen. „Horch, was kommt von draußen rein“<br />
und „Es dunkelt schon in der Heide“, so hießen zwei unserer<br />
Lieblingslieder. Manchmal sangen wir auch die aktuellen<br />
Schlager, wie zum Beispiel „Zuhause, Zuhause“ oder<br />
„Wir waren drei Kameraden“.<br />
Derweil verfolgte in der Schule unser Musiklehrer<br />
viele Wochen lang sein Ziel, uns mit den Klängen der<br />
„Zauberflöte” zu Liebhabern der Wiener Klassik zu machen.<br />
Die geplante Fahrt in ein Opernhaus, in der das<br />
Stück aufgeführt werden sollte, entfiel aus einem mir<br />
nicht mehr bekannten Grund.<br />
Als Alternative mussten wir<br />
an dem für die Aufführung<br />
vorgesehenen Nachmittag in<br />
der Konfirmationskleidung<br />
erscheinen und uns in der<br />
Schule die gesamte Oper auf<br />
einer Schallplatte anhören.<br />
Die Stühle im Festsaal waren<br />
im Halbkreis aufgestellt<br />
worden und wir schauten in<br />
die Richtung des sich unentwegt<br />
drehenden Plattenspielers.<br />
O Isis und Osiris – je<br />
länger es dauerte, umso öfter<br />
nickte einer ein. Natürlich,<br />
der Herr Neubacher hatte es<br />
gut gemeint, aber als richtig<br />
spannend empfanden wir das<br />
damals nicht.<br />
►<br />
Camillo Felgen, einer<br />
der ersten Sprecher beim<br />
deutschsprachigen Sender<br />
von Radio Luxemburg.<br />
durchblick 2/<strong>2010</strong> 33