Berliner Zeitung 19.10.2018
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<strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 244 · F reitag, 19. Oktober 2018 – S eite 21 *<br />
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Feuilleton<br />
Comedy und Action:<br />
Die TV-Serie<br />
„Deutschland 86“<br />
Seite 23<br />
„Voll Anmut und überzogen mit einem Trauerhauch.“<br />
Ingeborg Ruthe über drei restaurierte Madonnendarstellungen aus der Renaissance im Bode-Museum Seite 23<br />
Der Märtyrer<br />
Ende einer<br />
Kunstaktion<br />
Ulrich Seidler<br />
fordertRücksicht für<br />
konfuse Künstler.<br />
Am4.November 2016 kam es vor<br />
dem Roten Rathaus zu nicht<br />
mehr ganz sicher rekonstruierbaren<br />
Szenen. So viel ist klar:Ein Chor von<br />
Schauspielern skandierte Goethe-<br />
Verse. Angeführt wurde er von dem<br />
Schauspieler und Regisseur Stefan<br />
Kolosko,seiner Kollegin und Lebensgefährtin<br />
Nina Ender und ihrem gemeinsamen<br />
Sohn Christoph, der im<br />
Tragetuch eine Volksbühnenfahne<br />
gehisst hat. Herbeigerufene Polizisten<br />
beendeten die Kunstaktion, nahmen<br />
Personalien auf und leiteten Ermittlungen<br />
ein. Alles mit angemessener<br />
Freundlichkeit, wie Kolosko<br />
sich erinnert. Dass man ihm vorwarf,<br />
eine „verbotene bzw.nicht angemeldete<br />
Versammlung“ abgehalten zu<br />
haben, ahnte er nicht. Laut seinen<br />
Aussagen wollte erTexte und Sprechweisen<br />
für eine vom Gorki-Theater<br />
im öffentlichen Raum geplante<br />
Kunstaktion innerhalb des Herbstsalons<br />
ausprobieren. Seiner Meinung<br />
nach handelte es sich um eine spontane<br />
Probe und um keine Versammlung,<br />
schon gar keine politische.<br />
Nun aber −ein paar Behördenbriefe,<br />
knapp verpasste Widerspruchsfristen<br />
und viele Facebook-<br />
Posts später −flatterte ihm am 6. Oktober<br />
ein Strafbefehl ins Haus: Er solle<br />
bis kommenden Sonnabend 600<br />
Euro zuzüglich 116,35 Euro Gebühren<br />
bezahlen oder eine 20-tägige Ersatzhaft<br />
antreten. Auch dieses Schreiben<br />
veröffentlichte Kolosko auf seiner<br />
Facebook-Seite, zusammen mit<br />
einem an die <strong>Berliner</strong> Staatsanwaltschaft<br />
gerichteten Gnadengesuch, in<br />
dem er Hintergründe ausführt, einmal<br />
mehr die Freiheit der Kunst verteidigt,<br />
aber auch Selbstkritik etwa an<br />
seiner Nachlässigkeit im Umgang mit<br />
seiner Post übt.<br />
Auf Nachfrage der <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong><br />
sagte Kolosko,dass er nicht vorhabe,<br />
als Märtyrer für die Kunst ins<br />
Gefängnis zu gehen. Das wird wohl<br />
auch nicht nötig sein, denn inzwischen<br />
gibt es viele, die Kolosko Geld<br />
spenden wollen, darunter Klaus Lederer,<br />
der Kultursenator dieser Stadt.<br />
Praktisch erwägend, dass ja nun nicht<br />
mehr viel Zeit für eine Sammelaktion<br />
bleibt, schießt die Intendantin des<br />
Gorki-Theaters Shermin Langhoff die<br />
gesamte Summe vor. Jetzt muss das<br />
Geld nur noch rechtzeitig bei der Gerichtskasse<br />
landen. Bitte nicht verbaseln,<br />
Herr Kolosko!<br />
438 Tage auf 2016 Seiten<br />
Das Protokoll des NSU-Prozesses ist ein ernüchterndes Dokument der verhinderten Wahrheitsfindung<br />
VonArnoWidmann<br />
Ein Schuber mit fünf Bänden<br />
mit insgesamt etwas mehr<br />
als 2000 Seiten. Keine Analyse,<br />
keine Einbettung des<br />
Nationalsozialistischen Untergrundes<br />
in die Geschichte des deutschen<br />
Rechtsradikalismus, nichts über das<br />
enge Geflecht aus Verfassungsfeinden<br />
und Verfassungsschutz. Wozu<br />
auch? Schließlich geht es ausschließlich<br />
um den Prozess,der dem NSU in<br />
den Jahren 2013 bis 2018 in München<br />
gemacht wurde.<br />
Aber die fünfundzwanzig Seiten<br />
Einführung werden auch nicht genutzt,<br />
um dem lesenden Publikum<br />
wenigstens in Umrissen deutlich zu<br />
machen, wie der Gesamtkomplex<br />
tranchiert wurde, um alles auszuschließen,<br />
das über die toten Täter<br />
Uwe Bönhardt, Uwe Mundlos und<br />
die überlebende Angeklagte Beate<br />
Zschäpe hinausweisen könnte.<br />
Man wird sich erinnern: 2003<br />
scheiterte der Versuch, die NPD zu<br />
verbieten, als sich herausstellte,dass<br />
V-Leute des Verfassungsschutzes in<br />
der Führungsebene der Partei arbeiteten.<br />
Zwischen 2000 und 2007 ermordete<br />
der NSU neun Migranten<br />
und eine Polizistin, verübte 43 Mordversuche,<br />
drei Sprengstoffanschläge<br />
und 15 Raubüberfälle.<br />
Dem Münchner Prozess ging es<br />
erklärtermaßen nicht um die Aufklärung<br />
über ein mögliches Unterstützerumfeld,<br />
geschweige gar um die<br />
mit ihm verwickelten verschiedenen<br />
Staatsschutzabteilungen.<br />
Die zweitausend Seiten dieser<br />
Bände bilden den Prozess ab, machen<br />
ihn aber nicht sichtbar. Sie dokumentieren<br />
ihn. Sie ordnen ihn<br />
nicht ein.<br />
Drei Bände Tagfür TagBeweisaufnahme,<br />
ein Band Plädoyers<br />
und Urteil und ein sehr hilfreicher,<br />
die vorangehenden Bände erschließender<br />
Materialienband.<br />
Die Protagonisten des Prozesses<br />
werden vorgestellt: die Angeklagten<br />
Beate Zschäpe, André Eminger,<br />
Holger Gerlach, Ralf Wohlleben,<br />
Carsten Schultze; Staatsanwaltschaft;<br />
Verteidiger; Nebenkläger<br />
und deren Anwälte; die<br />
Gutachter. Dazu eine Karte mit<br />
den Tatorten, eine Chronologie<br />
des NSU, ein Glossar, ein Namensverzeichnis,<br />
das extrem hilfreiche<br />
Register der Themenkomplexe<br />
und die Chronologie der 438 Prozesstage<br />
mit vier bis sechs Zeilen<br />
proTag, die es einem leicht macht,<br />
den Prozessverlauf zu verfolgen.<br />
Man kann vom Materialienband<br />
ausgehend zum Beispiel nach der<br />
Die Empörung gegen den NSU-Komplex wird nicht aufhören.<br />
AUSSAGEN, ANHÖRUNGEN, PLÄDOYERS, GLOSSAR, CHRONIK<br />
Annette Ramelsberger,WiebkeRamm, Tanjev Schultz, Rainer Stadler:<br />
Der NSU-Prozess<br />
Fünf Bände im Schuber,Verlag Antje Kunstmann,<br />
München 2018, 2000 Seiten, 80 Euro.<br />
DPA/LINO MIRGELER<br />
Ceska-Tatwaffe fragen. Man kann<br />
ein paar Stunden allein damit zubringen,<br />
dem Gericht dabei zuzusehen,<br />
wie es versucht, Klarheit in den<br />
Ablauf der Waffenbeschaffung zu<br />
bringen.<br />
Wenig erhellend für die Zwecke<br />
des Verfahrens, aber um so aufschlussreicher<br />
für die interessierte<br />
Öffentlichkeit ist da zum Beispiel die<br />
Aussage von Timo Brandt. Er war<br />
Gründer des Thüringer Heimatschutzes<br />
und V-Mann des Verfassungsschutzes.<br />
Ererklärte, erkönne<br />
sich nicht erinnern, Carsten<br />
Schultze, dem einzigen geständigen<br />
Angeklagten, jemals Geld gegeben<br />
zu haben. Aber ausschließen könne<br />
er es nicht. „Es wurde ja sehr viel<br />
Geld vom Landesamt für Verfassungsschutz<br />
übergeben für alle<br />
möglichen Aktivitäten...“ Über Waffen<br />
aber sei nie gesprochen worden.<br />
Wofür das Geld, insgesamt wohl<br />
200 000 DM, die Brandt vomVerfassungsschutz<br />
bekommen hatte, um<br />
sie in der Szene zu verteilen, ausgegeben<br />
wurde,wurde nicht überprüft.<br />
Passagen wie diese machen den<br />
Reiz der Bände aus. Schon weil sie<br />
nahelegen, was weitere Verfahren<br />
aufzuklären hätten. Der anAufklärung<br />
interessierte Zeitgenosse stolpertauch<br />
über den Tag282: „ImGericht<br />
werden Fotos aus dem Jahr<br />
2004 gezeigt, die das untergetauchte<br />
Trio Mundlos, Böhnhardt<br />
und Zschäpe im Urlaub zeigen.<br />
Richter Götzl weist einen Beweisantrag<br />
zu dem früheren V-Mann Ralf<br />
Marschner zurück. Die Annahme,<br />
staatliche Stellen hätten durch Informationen<br />
des V-Manns das Trio<br />
festnehmen und Straftaten verhindernkönnen,<br />
sei spekulativ.“<br />
Ich muss gestehen, dass ich davon<br />
ausgehe, dass ein Gericht dazu<br />
da ist, Spekulationen nachzugehen.<br />
Nicht jeder, aber einer, bei der es<br />
darum hätte gehen können zu klären,<br />
ob der Verfassungsschutz seiner<br />
Aufgabe nachgekommen ist<br />
oder sie sogar sabotiert hat, eine<br />
solche Spekulation hätte unbedingt<br />
geklärtgehört.<br />
Dass das immer wieder nicht getan<br />
wurde,lässt sich in diesen Protokollen<br />
nachlesen. Sie bieten einen<br />
deprimierenden Einblick in die fortwährend<br />
betriebene Einschränkung<br />
des Prozesses der Wahrheitsfindung.<br />
Fast immer mit der Begründung,<br />
man müsse den Prozess zu Ende<br />
bringen. Derhier sich aufdrängende<br />
Eindruck ist: Es ging allein um die<br />
Verurteilung der Hauptangeklagten<br />
Beate Zschäpe und gerade nicht um<br />
die umfassende Aufklärung des<br />
NSU-Komplexes.<br />
NACHRICHTEN<br />
Istanbul-Fotograf Ara Güler<br />
gestorben<br />
Dertürkische Fotograf AraGüler ist<br />
tot. Güler,bekannter Chronist der<br />
Stadt Istanbul, starb im Alter von90<br />
Jahren in der Nacht zum Donnerstag<br />
nach einem Herzinfarkt im Krankenhaus.Sein<br />
Arzt sagte türkischen Medien<br />
am Donnerstag, Güler sei wegen<br />
mehrerer Krankheiten behandelt<br />
worden. Mitte August hatte er<br />
noch im Stadtviertel Bomonti die Eröffnung<br />
eines ihm gewidmeten Museums<br />
besucht. Er fotografierte für<br />
Magazine und arbeitete auch für die<br />
berühmte Agentur Magnum. Güler<br />
wurde 1928 in Istanbul geboren. Bekannt<br />
wurde er für seine Schwarz-<br />
Weiß-Fotografien vonAlltagsszenen<br />
in Istanbul. Bekannt wurde er aber<br />
auch mit seinen Porträts vonBerühmtheiten,<br />
etwa Churchill, Gandhi,<br />
Hitchcock oder Dalí. (dpa)<br />
Banksy wollte sein Werk bei<br />
Auktion ganz zerstören<br />
DerStreet-Art-Künstler Banksy wollte<br />
sein während einer Auktion in London<br />
teilweise zerstörtes Kunstwerk<br />
eigentlich vollständig schreddern. In<br />
einem am Mittwoch auf seiner<br />
Homepage veröffentlichtenVideo<br />
zeigt er nach einem Mitschnitt der<br />
Auktion eine Tafel:„Bei Proben funktionierte<br />
es jedes Mal“. Dann ist zu sehen,<br />
in der eine Kopie des Bildes<br />
durch den im Rahmen verborgenen<br />
Schredder tatsächlich ganz zerschnitten<br />
wurde.Das Bild„Girl with aBalloon“<br />
war vorknapp zweiWochen für<br />
umgerechnet knapp 1,2 Millionen<br />
Euro verkauft worden. Kurz nachdem<br />
der Hammer fiel, wurde es zur Hälfte<br />
geschreddert. (dpa)<br />
Bauhaus Dessau untersagt<br />
Konzertaufzeichnung<br />
MitBedauernhat das ZDF auf den<br />
Schritt der Stiftung Bauhaus Dessau<br />
reagiert, die geplante Aufzeichnung<br />
eines Konzerts der Band Feine Sahne<br />
Fischfilet nicht zu unterstützen. Die<br />
Stiftung habe dem Sender schriftlich<br />
untersagt, die Aufzeichnung in ihren<br />
Räumen zu veranstalten, teilte das<br />
ZDF mit. DieStiftung hatte nach Kritik<br />
an dem geplanten Konzertim<br />
Bauhaus Dessau per Hausrecht eine<br />
Absage des vomZDF für den 6. November<br />
vorgesehenen Auftritts verlangt.<br />
DasBauhaus solle nicht zum<br />
Austragungsortpolitischer Agitation<br />
und Aggression werden, teilte die<br />
Stiftung mit Verweis auf ihr Hausrecht<br />
mit. Rechte Gruppierungen<br />
hätten in sozialen Netzwerken gegen<br />
das Konzertmobil gemacht. (dpa)<br />
musicAeterna<br />
TEODOR CURRENTZIS<br />
musicAeterna chorus and orchestra of Perm Opera<br />
Hersant Tristia für gemischten Chor und Ensemble<br />
Mit freundlicher Unterstützung der Aventis Foundation<br />
KAMMERMUSIKSAAL<br />
DONNERSTAG<br />
25.10.18<br />
20 UHR<br />
KA<br />
RTEN: 030/254 88-999, www.berliner-philharmoniker.de<br />
Foto: Olya Runyova