Berliner Zeitung 19.10.2018
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22 <strong>Berliner</strong> <strong>Zeitung</strong> · N ummer 244 · F reitag, 19. Oktober 2018<br />
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Feuilleton<br />
Eugen Gomringer Marcel Beyer Kerstin Preiwuß Nora Bossong DIRK SKIBA (4)<br />
Schau mich an!<br />
Der Band „Das Gedicht und sein Double“ stellt hundert Dichter in Fotos und Versen vor<br />
VonCornelia Geißler<br />
Eugen Gomringer reißt die<br />
Augen auf. Was willst du<br />
vonmir?, scheint sein Blick<br />
zu fragen. Der Begründer<br />
der Konkreten Poesie,geboren 1925,<br />
wirft sein Gedicht dem Betrachter als<br />
Rätsel hin: „zahl5678“ steht auf der<br />
linken Seite neben seinem Porträt.<br />
Vier Buchstaben, vier Ziffern, mehr<br />
nicht. DasFoto hat Dirk Skiba aufgenommen,<br />
so wie alle anderen in dem<br />
Band „Das Gedicht und sein<br />
Double“.<br />
Das Buch ist ein Beispiel für die<br />
zauberhafte Wirkung, die aus Leidenschaft<br />
entstehen kann. Denn<br />
Dirk Skiba ist eigentlich kein Fotograf,<br />
sondern arbeitet an der Universität<br />
Jena als Dozent für<br />
Deutsch als Fremdsprache. Studiert<br />
hat er Sinologie und Germanistik.<br />
Doch die Leidenschaft für<br />
Lyrik lässt ihn zu Dichtern fahren,<br />
um sie zu porträtieren. Jedes Bild<br />
steht für sich, so beiläufig oder so<br />
inszeniert aufgenommen. Die<br />
Dichter wirken sympathisch oder<br />
verschlossen. Gemeinsam ist ihnen<br />
die Aufforderung an den Betrachter,<br />
sich mit ihnen auseinanderzusetzen.<br />
Die Herausgeber Nancy Hünger<br />
und Helge Pfannenschmidt legten<br />
Dirk Skibas Duotone-Fotos hundertzwanzig<br />
Dichtern aus dem deutschsprachigen<br />
Raum vor, baten sie, ein<br />
Gedicht dazu zu schreiben oder eines<br />
auswählen, vondem sie sich getroffen<br />
fühlen. Der Zufall wollte es,<br />
dass genau einhundertbereit waren,<br />
sich an dem Projekt zu beteiligen. So<br />
versammelt das Buch also Porträts<br />
und Selbstporträts, mehr als zwei<br />
Drittel der Gedichte sind in dem<br />
Buch zum ersten Malgedruckt.<br />
Der Buchtitel erinnert an eine<br />
Reihe,die Mitte der 60er-JahreimLiterarischen<br />
Colloquium Berlin stattfand<br />
und damals auch zu einem<br />
Buch wurde: „Ein Gedicht und sein<br />
Autor“. Der LCB-Gründer Walter<br />
Höllerer bat Dichter von Günter<br />
Grass bis Tadeusz Rozewicz um Essays<br />
zu ihrer Arbeit, Renate von<br />
Mangoldt fotografierte. Die Reihe<br />
war 2013 zum 50. Geburtstag des<br />
LCB noch einmal neu belebt worden.<br />
Das neue Buch hat nicht den<br />
Anspruch auf tiefgründige Auseinandersetzung,<br />
es nimmt dafür die<br />
Lebendigkeit der gegenwärtigen Lyrikszene<br />
auf, zeigt mit 100 Beispielen,<br />
was möglich ist.<br />
Marcel Beyer, Jahrgang 1965,<br />
schaut nach oben, als würde er zu<br />
den „Flughunden“ blicken, die ihn<br />
als Romancier bekannt machten.<br />
Sein Gedicht „Mach“ variiert die<br />
Zeile „Mach dich gefaßt auf“. Fünf<br />
zum Mitmachen und -denken anstupsende<br />
Strophen sind das,spielerisch<br />
Außen (Maienblümchen) und<br />
Innen (Herzkammerbowle) mischend.<br />
Die 1980 geborene Kerstin<br />
Preiwuß, ebenfalls mit Romanen<br />
hervorgetreten („Restwärme“), wirkt<br />
auf ihrem Foto, als würde sie sich<br />
leicht amüsiert abwenden. Doch<br />
schon die Überschrift ihres Gedichts<br />
„Dies ist ein Gruß und hat viele<br />
Adern“ greift nach den Sinnen des<br />
„Wowillst Du hin, mein unrasiertes Kinn,/ das<br />
ich schlecht kenne? Alter Jochbeinknochen,/<br />
was treibt dich fort?/ Nur Blut gerinnt,/<br />
doch niemals Zeit, auf vielen Photos<br />
scharf gestochen.“<br />
Durs Grünbein beginnt so sein Gedicht „Selbstbildnis vor violettem Hintergrund“<br />
Lesers.„DasLeben hat keine Flügel“,<br />
heißt es in Nora Bossongs Gedicht<br />
„Hochstraße“. Die Dichterin, Jahrgang<br />
1982, zeigt ihren Hinterkopf, als<br />
wollte sie die Szene verlassen, dabei<br />
ist doch gerade sie eine,die sich einmischt,<br />
die ihreGedichte oft direkt in<br />
den Alltag, sogar in seine politischen<br />
Fragen setzt. Es ist eben nicht das Er-<br />
wartete, das einem in diesem Buch<br />
begegnet. Vielleicht findet sich Bossong<br />
zu oft fotografiert.<br />
„Das Foto zeigt uns, wie wir uns<br />
selbst niemals sehen können“,<br />
schreibt Nancy Hünger in ihrem einleitenden<br />
Essay. Man kennt das aus<br />
dem eigenen Erleben: Wie selten ist<br />
man mit dem Bild zufrieden, das andere<br />
von einem mit Kamera oder<br />
Handy einfrieren. Öffentliche Personen,<br />
wie es Schriftsteller ja sind, können<br />
die Kontrolle über ihre Darstellung<br />
in der Regel nicht behalten –jedoch<br />
in diesem Buch.<br />
Die Dichterporträts, die noch in<br />
der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts<br />
Büchern beigegeben wurden,<br />
zeigten gern ein Denker-Ideal.<br />
In der Gegenwartsind Schriftsteller-<br />
Fotos nicht mehr nur in den Klappentexten<br />
der Bücher verwahrt, sie<br />
prangen auf Plakaten, die zu Lesungen<br />
einladen, Tageszeitungen nutzen<br />
sie für Ankündigungen oder um<br />
Rezensionen zu illustrieren. Fotografen<br />
wie Isolde Ohlbaum, Peter<br />
Peitsch, Susanne Schleyer und Renate<br />
von Mangoldt sind auf Schriftsteller<br />
spezialisiert, versuchen Werkkenntnis<br />
und Kamerablick zu verbinden.<br />
Der Laie Dirk Skiba begegnet<br />
„seinen“ Dichtern sehr offen,<br />
lässt sie sich so zeigen, wie sie gesehen<br />
werden möchten. Manche inszenieren<br />
sich: Mara Genschel trägt<br />
ein Gebilde aus Folien auf dem Kopf,<br />
das wie eine Blumenhaube wirkt.<br />
Anderen scheint es egal zu sein. Ulf<br />
Stolterfoth steht in einer Art Hausdurchgang,<br />
eine Hand in der Hosentasche.Durs<br />
Grünbein blickt am Betrachter<br />
vorbei. Sein Gedicht erkundet<br />
das Bild: „Wowillst Du hin, mein<br />
unrasiertes Kinn,/ das ich schlecht<br />
kenne? Alter Jochbeinknochen,/ was<br />
treibt dich fort?/ Nur Blut gerinnt,/<br />
doch niemals Zeit, auf vielen Photos<br />
scharfgestochen.“<br />
Die Zeit fließt, doch diese Bilder<br />
aus der Gegenwart der Lyrik halten<br />
kleine und große Momente fest. Dieses<br />
Buch lädt zum Verweilen ein.<br />
Dirk Skiba: Das Gedicht&sein Double. Die<br />
zeitgenössischeLyrikszeneimPortrait. Hrsg. von<br />
Nancy Hünger und Helge Pfannenschmidt.<br />
Edition Azur,Dresden 2018. 224 S.,34,90 Euro<br />
Buchpremiere und Vernissage mit DirkSkiba<br />
und vier Dichtern,24. 10.,20Uhr,Buchhandlung<br />
Ocelot, Brunnenstraße 181,Eintritt frei<br />
Auf der Spur des Löwen<br />
Das Festival „100 Jahre Copyright“ befasst sich im Haus der Kulturen der Welt mit Kompositionskunst und Urheberrecht<br />
VonJohannes von Weizsäcker<br />
Wer schon einmal versucht hat,<br />
sich als Komponist für visuelle<br />
Medien zu verdingen, der hat womöglich<br />
die Erfahrung gemacht, dass<br />
man dabei zum Pastiche-Künstler<br />
werden kann. Zu Beginn erhält man<br />
meist einen Rohschnitt der zu betönenden<br />
Filmszene, Deowerbung<br />
oder Baumarktvideoschleife, die ein<br />
bereits existierendes Musikstück enthält,<br />
welches seinerseits aus urheberrechtlichen<br />
Gründen nicht verwendet<br />
werden darf. In diesem Fall muss<br />
die Komponistin ein Musikstück erstellen,<br />
das dem Original möglichst<br />
ähnelt, ohne es zu kopieren.<br />
Schnell befindet man sich damit<br />
in einer Grauzone. Welche Parameter<br />
eines Musikstückes sind als Original<br />
zu schützen? Wie kurz kann eine<br />
schützbare Tonfolge sein? Wie steht<br />
es mit einem Sound, der einer Produktion<br />
eigen ist? Diesen und anderen<br />
Fragen geht das Festival „100<br />
Jahre Copyright“ seit Donnerstag in<br />
Konzerten, Vorträgen, Filmen und<br />
Panel-Diskussionen im <strong>Berliner</strong><br />
Haus der Kulturen der Welt als Teil<br />
der vierjährigen Reihe „100 JahreGegenwart“<br />
nach. Leicht irreführend ist<br />
in diesem Zusammenhang der Titel,<br />
denn natürlich wirddas Konzept des<br />
Urheberrechts nicht erst seit dem<br />
Ende des ersten Weltkriegs, sondern<br />
spätestens seit Erfindung des Buchdrucks<br />
diskutiert.<br />
Über die geschichtlichen Hintergründe<br />
des Copyrights informierte<br />
ein Einführung des Kommunikationswissenschaftlers<br />
Aram Sinnreich.<br />
In mehreren Panels diskutieren<br />
darüber hinaus Experten und<br />
Sample-Künstler die Implikationen<br />
der durchs Internet verursachten<br />
Auflösung traditioneller urheberrechtlicher<br />
Mechanismen für Künstler<br />
und Musikindustrie.<br />
Sicherlich wird hier häufiger das<br />
an sich gut gemeinte,aber eben eher<br />
in den Urheberrechtsauffassungen<br />
der Prä-Internet-Welt fußende und<br />
somit hochumstrittene EU-Leistungsschutzgesetz<br />
zur Sprache kommen,<br />
welches das EU-Parlament im<br />
Und? Werhats’sgemacht? Das Trio Gang do Eletro<br />
September beschloss: Künftig sollen<br />
Uploadfilter Online-Medien davon<br />
abhalten, Drittinhalte ohne Vergütung<br />
zu teilen; gerade für Do-It-Yourself-Popmusiker<br />
– heutzutage die<br />
Normexistenz unter Popmusikern –<br />
aber auch für Labels und Verlage<br />
© TAIANA LAIUN<br />
wird dies unter Umständen verheerende<br />
Folgen haben.<br />
In diesem Kontext wirdauch noch<br />
einmal das legendäre Diktum des<br />
französischen Philosophen Roland<br />
Barthes herbeizitiert, der vom „Tod<br />
des Autors“ gesprochen hatte. Lange<br />
vorder Erfindung und Durchsetzung<br />
des Internets sagte Barthes, alles geschriebene<br />
sei in Wirklichkeit eine<br />
Ansammlung aus Mikro-Zitaten und<br />
Referenzen. Selbstverständlich erschien<br />
diese Idee in einem urheberrechtlich<br />
geschützten Buch, vondem<br />
Roland Barthes zu Lebzeiten profitierte<br />
– im Gegensatz zu Solomon<br />
Linda, dem vergessenen Urheber des<br />
Welthits „The Lion Sleeps Tonight“,<br />
wie der Dokumentarfilm „A Lion’s<br />
Trail“ auf dem Festival zeigen wird.<br />
Auch Musikschaffende selbst befassen<br />
sich in ihrer Kunst seit langem<br />
mit solchen Fragen, und so sind als<br />
integraler Bestandteil des Festivals<br />
mehrere Konzerte zu hören, in denen<br />
Künstler auf die eine oder andere<br />
Art andere Künstler kopieren.<br />
Dennis Alcapone zum Beispiel, ein<br />
Mit-Originator des Toasting, wo jamaikanische<br />
Vokalisten zu den Platten<br />
anderer Musiker sprechsingrappen.<br />
Das Ensemble Zeitkratzer basiert<br />
einen Wettbewerb auf den Erfahrungen,<br />
die sein Gründer<br />
Reinhold Friedl mit einer urheberrechtlich<br />
einwandfreien Schönberg-<br />
Parodie machte, gegen die Schönbergs<br />
Erben vorzugehen versuchten:<br />
Auftragskompositionen, die die Essenz<br />
von Schönberg-Stücken herausarbeiten<br />
sollen, werden von einer<br />
Jury gekürt, der auch Pop- und<br />
Kunsttheoretiker Diedrich Diederichsen,<br />
Bruder des Festival-Kurators<br />
Detlef Diederichsen, angehört.<br />
Viel Anregendes also für Musikschaffende<br />
und -interessierte, eventuell<br />
kommt als Sub-Thema ja noch<br />
eine Diskussion über Rezipierungsurheber-Allüren<br />
unter Teenagern<br />
und Musikkritikern zustande („Ich<br />
fand diese Band lang vordir cool“).<br />
Übrigens, so der hier schreibende<br />
Besserwisser-Musikkritiker,<br />
hätte man auch den Komponisten<br />
Johannes Kreidler einladen können:<br />
Als politisches Statement<br />
sourcte er einst einen Kompositionsauftrag<br />
an Komponisten in Billiglohnländernaus.<br />
100Jahre Copyright noch bis SonntagimHKW,<br />
Info:www.hkw.de,Tel.: 39787175