11.09.2021 Aufrufe

bull_05_01_Aufbruch

Credit Suisse bulletin, 2005/01

Credit Suisse bulletin, 2005/01

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

CREDIT SUISSE<br />

Bulletin_1.<strong>05</strong><br />

Karlheinz Böhm Leader 59<br />

Text: Andreas Schiendorfer<br />

«Wir können mittelfristig auf den Absatzmarkt<br />

Afrika nicht verzichten»<br />

Im Alter von 53 Jahren brach der Schauspieler Karlheinz Böhm nochmals zu neuen Ufern auf:<br />

Nach einer «Wetten, dass…»-Sendung gründete er das Hilfswerk Menschen für Menschen. Seit 1981 kämpft<br />

er in Äthiopien gegen die Ungerechtigkeit dieser Welt.<br />

Foto: Stiftung Menschen für Menschen<br />

Bulletin: Die UNO hat 20<strong>05</strong> zum Jahr des<br />

Kleinkredits bestimmt. Eine gute Sache?<br />

Karlheinz Böhm: Unbedingt. Menschen für<br />

Menschen hat seit 1997 in Äthiopien über<br />

5000 Kleinkredite von durchschnittlich 150<br />

Schweizer Franken gewährt. Wir unterstützen<br />

Frauen, damit sie selbstständig einen Beruf<br />

ausüben und sich eine eigene Existenz aufbauen<br />

können. Wir durften damit sehr gute<br />

Erfahrungen sammeln.<br />

Inwiefern?<br />

Die Kredite werden fast ausnahmslos und fristgemäss<br />

zurückbezahlt. Das ist eine gross -<br />

ar tige Leistung. Die Frauen haben die Grundlagen<br />

des Sparens und kaufmännischen Denkens<br />

gelernt und verstehen es, ein kleines,<br />

rentables Unternehmen aufzubauen. Sie üben<br />

ganz einfache, aus unserer Sicht unspek -<br />

ta kuläre Berufe aus: Weberin, Schneiderin,<br />

Coiffeuse, Wirtin.<br />

Herrscht in Äthiopien wirklich auch an<br />

solchen Berufen Mangel?<br />

Das ist in der Tat so. In Äthiopien leben zu 80<br />

Prozent Bauern. Es gibt auf dem Land keinen<br />

Mittelstand, keine Fabriken und auch keine<br />

Handwerker. Das Bankensystem im ganzen<br />

Land entspricht etwa dem einer Kleinstadt bei<br />

uns. Deshalb ist es für Frauen fast unmöglich,<br />

Kredite zu bekommen. Die Banken fordern zu<br />

hohe Sicherheiten, die lokalen Geldverleiher<br />

zu hohe Zinsen.<br />

Sie sprechen immer von Frauen. Das ist<br />

wohl kein Zufall.<br />

In Äthiopien spielen die Frauen gesellschaftlich<br />

und wirtschaftlich immer noch eine völlig<br />

untergeordnete Rolle, vergleichbar mit der<br />

Situation in Europa vor 200 Jahren. Ich bin<br />

aber überzeugt, dass sich das Land nur nachhaltig<br />

entwickeln kann, wenn gleichzeitig die<br />

Stellung der Frauen verbessert wird. Deshalb<br />

gewähren wir unsere Kleinkredite nur Frauen,<br />

meistens Witwen und Geschiedenen. Erfreulich<br />

ist, dass ihr wirtschaftlicher Erfolg von<br />

ihrem Umfeld positiv wahrgenommen wird.<br />

Ohnehin ist er nur möglich, wenn die Männer<br />

mitmachen. So stellt das Kleinkrediteprogramm<br />

einen wichtigen Schritt in der Emanzipation<br />

der Frauen dar. Ähnliches erlebten wir<br />

bei unserem Einsatz gegen die Beschneidung<br />

der Mädchen.<br />

Sind die Zustände mit denen in Somalia<br />

vergleichbar, wie sie das Model Waris Dirie<br />

in seiner erschütternden Biografie «Wüstenblume»<br />

beschreibt?<br />

Bei den äthiopischen Moslems wird nicht, wie<br />

etwa bei den christlichen Kopten, allein die<br />

Klitoris der sechs- bis zehnjährigen Mädchen<br />

beschnitten, sondern der ganze Genitalbereich.<br />

Ich habe kleine Mädchen daran sterben<br />

sehen. Dieses quasireligiöse Ritual macht<br />

überhaupt keinen Sinn, ist nichts anderes als<br />

ein Herrschaftsgebaren des Mannes: Die Frau<br />

soll keine Lust empfinden.<br />

Also haben Sie sich mit den Religionen<br />

angelegt. Setzten Sie damit nicht den Erfolg<br />

des Hilfswerks aufs Spiel?<br />

Weder in der Bibel noch im Koran wird die<br />

Beschneidung erwähnt. Der Patriarch und der<br />

Imam unternahmen zwar nie etwas dagegen;<br />

aber weil ich dieses Problem sehr offensiv anging,<br />

haben sie mich sofort unterstützt. Rückblickend<br />

erscheint es mir wie ein Wunder,<br />

wie schnell wir diese 2000 Jahre alte Tradition<br />

zurückdrängen konnten.<br />

Und doch: Nichts als ein Tropfen auf den<br />

heissen Stein, wenn man bedenkt, wie riesig<br />

Äthiopien und seine Probleme sind.<br />

So darf man einfach nicht denken. Die Engländer<br />

sagen «a drop in the sea». Mutter Teresa<br />

sprach mir Mut zu, als ich sie einmal darauf<br />

ansprach: «Ein einzelner Tropfen ist zwar wenig»,<br />

sagte sie, «aber ohne Tropfen kann es<br />

kein Meer geben.» Die Statistik, wie vielen<br />

Menschen wir helfen, ist zweitrangig. Wichtig<br />

ist, dass wir helfen. Und unser Beispiel macht<br />

Schule. Kleinkredite werden nun auch anderswo<br />

vergeben, die Beschneidung wird bald im<br />

ganzen Land abgeschafft sein.<br />

Nicht alle gewähren Kredite zinslos …<br />

Wir sind eine Stiftung, die von Spen dengeldern<br />

lebt … Wenn der Zins fair ist, machen für mich<br />

auch Kleinkredite Sinn, die als Investitionen<br />

angesehen werden. Diese Geschäftsbeziehung<br />

trägt dem Selbstwertgefühl der Äthiopier<br />

Rechnung. Sie möchten nicht Almosenempfänger,<br />

sondern Geschäftspartner sein.<br />

Zudem gehe ich davon aus, dass sich die<br />

Geldgeber näher und längerfristig mit ihrer<br />

«Investition» beschäftigen. So kann vielleicht<br />

nach und nach eine nachhaltige Wirtschaftsbeziehung<br />

mit Afrika, dem vergessenen Kontinent,<br />

entstehen.<br />

Afrika ist allerdings für viele kein ernst zu<br />

nehmender Wirtschaftspartner!<br />

Damit sind wir beim Grund, welcher mich bewog,<br />

mein Leben radikal zu ändern: Wut.<br />

Wut?<br />

Wut über die himmelschreiende Ungerechtigkeit<br />

auf dieser Welt, über die unerträgliche<br />

Diskrepanz zwischen Arm und Reich. Dies gilt<br />

gerade für Afrika. Dieser Kontinent wurde<br />

von einigen Staaten Europas ein halbes Jahrtausend<br />

lang durch den Kolonialismus brutal<br />

unterdrückt und an jeglicher Form der Eigenentwicklung<br />

gehindert. Wir sind schuld an der<br />

Verarmung Afrikas, und wir sind mitschuldig<br />

an den politisch-ethnischen Konß ikten, in die<br />

manche Län der gleichzeitig mit ihrer Unabhängigkeit<br />

stürzten. Für mich sind die heutigen<br />

Beziehungen zwischen Europa und Afrika<br />

neokolonialistisch. Kein Land, auch die Schweiz<br />

nicht, pflegt wirtschaftliche oder kulturelle<br />

Beziehungen zu Afrika, wie sie eigentlich sein<br />

müss ten. Wir behandeln die Afrikaner nicht<br />

als Partner, vor allem wirtschaftlich nicht. Das<br />

kann sich als fataler Fehler erweisen. >

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!