bull_05_01_Aufbruch
Credit Suisse bulletin, 2005/01
Credit Suisse bulletin, 2005/01
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CREDIT SUISSE<br />
Bulletin_1.<strong>05</strong><br />
08<br />
und ätzt Kupferplatten, führt ihre Studien mit Insekten fort. Ungewöhnlicher<br />
ist schon, dass sie zwischen 1675 und 1680 ein dreiteiliges,<br />
illustrier tes Blumenbuch veröffentlicht – da es als Stick- und<br />
Zeichenvorlage für höhere Töchter verlegt wird, bricht sie damit aber<br />
keine Tabus.<br />
Spinnen, Käfer, Raupen – und eine radikale Trennung<br />
Ein Tabu bricht hingegen eine andere Publikation. Gleichzeitig mit der<br />
Publikation des letzten Teils ihres Blumenbuches veröffentlicht sie ein<br />
weitaus ambitionierteres Werk: «Der Raupen wunderbare Verwandlung<br />
und sonderbare Blumennahrung». Das Buch umfasst 50 Kupfer stiche,<br />
die jeweils eine oder mehrere Arten von Insekten naturgetreu in ihren<br />
verschiedenen Lebensstadien zeigen. Als Raupe oder Larve, im Kokon<br />
eingesponnen oder frisch geschlüpft, im Flug oder auf eine m Blatt<br />
sitzend.<br />
Mit diesem Werk bricht Maria Sibylla Merian in eine Männerdomäne<br />
ein: die Wissenschaft. Tatsächlich war sie als zeichnende Naturkundlerin<br />
und als naturkundlich forschende Künstlerin so sehr eine Ausnahmeerscheinung,<br />
dass ihr der Dichter Christoph Arnold deswegen sogar<br />
ein Lobgedicht widmete: Es ist Verwunderns werth / dass Ihnen auch<br />
die Frauen dasjenige getrauen zu schreiben / mit Bedacht / was der<br />
Gelehrten Schaar so viel thun gemacht.<br />
In die Zeit nach der viel beachteten Publikation des Raupenbuches<br />
fällt ein zweiter radikaler <strong>Aufbruch</strong>: Um 1685 kommt Maria Sibylla Merian<br />
mit den Labadisten in Berührung, einer protestantischen Bewegung,<br />
die sich dem katholisch-klösterlichen Lebensideal verpflichtet fühlt.<br />
Die Lehren der Labadisten müssen sie beeindruckt haben: Sie trennt<br />
sich von ihrem Mann und tritt mit Töchtern und Mutter in eine Lebensgemeinschaft<br />
der Labadisten ein.<br />
Fünf Jahre bleiben die Merians bei den Labadisten. Kaum etwas ist<br />
aus dieser Zeit bekannt. Die Autorin Natalie Zemon Davis schreibt in<br />
ihrer Biografie der Maria Sibylla Merian: «Merian äusserte sich später<br />
mit keinem Wort über die Labadisten – kein Urteil, keine Stellungnahme,<br />
kein kritischer Satz. Doch es ist klar – dieser fünfjährige ‹Rückzug›<br />
nach Wieuwerd war nichts anderes als eine Zeit der ‹Verpuppung›, des<br />
Wachstums im Verborgenen, eine Zeit des Lernens für eine Frau, die<br />
sich nicht festlegen liess.»<br />
1691, nach dem Tod ihrer Mutter, bricht Maria Sibylla Merian zum<br />
nächsten Lebensabschnitt auf, verlässt die Labadisten und zieht mit<br />
ihren Töchtern nach Amsterdam.<br />
Die zweite Metamorphose in Amsterdam<br />
Gartentulpen, Stachelbeere und Stachelbeerwespe, auf<br />
der Beere sitzt die raupenähnliche Larve einer Blattwespe. (oben)<br />
Ein Lieblingsmotiv damaliger Blumenmaler: die Tulpe. Das Bild<br />
entstand wahrscheinlich in den Jahren zwischen 1670 und 1675.<br />
Die Hafenstadt Amsterdam ist ein blühendes Handels- und Kulturzentrum<br />
Europas. Mit 200 000 Einwohnern auch ein Ort, an dem sich eine<br />
alleinstehende Frau durchschlagen kann. Maria Sibylla baut eine unabhängige,<br />
eigene Existenz auf. Sie zeichnet, gibt wieder Malunterricht,<br />
handelt mit Zeichenutensilien und verlegt ihre eigenen Werke.<br />
In diesen Jahren finden ihre Raupenbücher Eingang in wissenschaftliche<br />
Bibliotheken, ihre Erkenntnisse über die Vermehrung der<br />
Insekten offene Ohren. Das ist keine Selbstverständlichkeit. Erstens