10.09.2022 Aufrufe

Kunstbulletin Oktober 2022

Unsere Oktober Ausgabe für 2022 mit Beiträgen zu Nora Toratu, Monica Bonvicini, F+F Schule für Kunst und Design, Klodin Erb, uvm.

Unsere Oktober Ausgabe für 2022 mit Beiträgen zu Nora Toratu, Monica Bonvicini, F+F Schule für Kunst und Design, Klodin Erb, uvm.

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

On On Kawara — Läuft die Zeit, wir laufen mit<br />

‹On On Kawara› in der Lokremise St. Gallen ist dem japanischen<br />

Konzeptkünstler gewidmet. Kawara versuchte mit seinen ‹Date<br />

Paintings›, den Notizbüchern und mit Postkartenserien das Wesen<br />

der Zeit zu fassen. Es findet seinen Widerhall in fünf weiteren<br />

künstlerischen Positionen.<br />

St. Gallen — «Unsichtbar das Gebirge; vom nächsten Nadelholz allenfalls mit der<br />

Zeit ein wenig zu sehen: beladen stand es, verlor sich rasch im Gebräu, und dann und<br />

wann entlud eine Fichte sich ihrer Überlast, schüttelte stäubendes Weiss ins Grau.»<br />

Thomas Mann beschreibt 1924 im ‹Zauberberg› weit mehr als den Schnee und den<br />

Winter. Er schildert die Auflösung der Landschaft, der Linien, der Gipfelkonturen. Wie<br />

wäre es, wenn sich auch die Kunst auslöschen liesse? Wenn eines der folgenreichsten<br />

avantgardistischen Werke im Schneegestöber vorübergehend seine Gestalt verlöre?<br />

Bethan Huws hat es ausprobiert und ein Pissoir in einer Schneekugel montiert.<br />

Es ist makellos weiss wie Marcel Duchamps ‹Fountain›, hat die gleiche Standardform<br />

und liegt ebenso um 90 Grad gekippt. Von Zeit zu Zeit rotiert das Urinal und löst einen<br />

kleinen Schneesturm aus. Es bringt sich damit selbst zum Verschwinden, um kurz<br />

danach wieder auf- und schliesslich erneut abzutauchen. Huws’ poetische Arbeit ist<br />

der schlüssige Auftakt für die Ausstellung zu Kreisläufen, zum unaufhörlichen, objektiven<br />

Verstreichen der Zeit und zur individuellen, oft nur momenthaften Erfahrung<br />

dieses Verstreichens. Früher war es eng verbunden mit dem Ticken der Uhren, wie<br />

es in der Ausstellung aus dem Schaufenster eines Antiquitätengeschäftes tönt: Die<br />

St. Galler Videokünstlerin Aleksandra Signer zeigt schemenhaft die Uhrengehäuse,<br />

das Ticken jedoch ist klar und deutlich, unerbittlich. Sekunde für Sekunde.<br />

Eng verknüpft ist das Thema Zeit auch mit der Eisenbahn: Der Taktfahrplan, die<br />

Schienenstösse, die Oberleitungsmasten geben den Rhythmus vor. Aleksandra Signer<br />

filmt aus dem TGV heraus und unter einer Eisenbahnbrücke; in einem Video von<br />

Barbara Signer ziehen die endlosen Güterzüge in der kalifornischen Wüste vorbei;<br />

von Roman Signer sind Materialien zur ‹Aktion mit einer Zündschnur zu sehen›, bei<br />

der er entlang der Bahnstrecke Appenzell–St. Gallen Explosionen auslöste.<br />

Das räumliche Zentrum der Ausstellung bilden Tatsuo Miyajimas drei Modellbahnzüge,<br />

die stetig in einem grossen Schienenkreis aneinander vorbeifahren. Auf<br />

ihren elf Waggons transportieren sie leuchtende Zifferanzeigen. Sie zählen in ihrem<br />

eigenen Rhythmus von neun herunter, nicht bis zur Null, sondern bis zum schwarzen<br />

Nichts. Dieser existenzialistischen Metapher antwortet Barbara Signers wehendes<br />

Kalenderblatt. Ein Luftstrom setzt es regelmässig in Bewegung. Wird es abreissen?<br />

Oder bleibt die Zeit doch für einen Moment stehen? Kristin Schmidt<br />

→ ‹On On Kawara›, Lokremise, Kunstmuseum, bis 6.11. ↗ www.kunstmuseumsg.ch<br />

94 <strong>Kunstbulletin</strong> 10/<strong>2022</strong>

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!