Kunstbulletin Oktober 2022
Unsere Oktober Ausgabe für 2022 mit Beiträgen zu Nora Toratu, Monica Bonvicini, F+F Schule für Kunst und Design, Klodin Erb, uvm.
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On On Kawara — Läuft die Zeit, wir laufen mit<br />
‹On On Kawara› in der Lokremise St. Gallen ist dem japanischen<br />
Konzeptkünstler gewidmet. Kawara versuchte mit seinen ‹Date<br />
Paintings›, den Notizbüchern und mit Postkartenserien das Wesen<br />
der Zeit zu fassen. Es findet seinen Widerhall in fünf weiteren<br />
künstlerischen Positionen.<br />
St. Gallen — «Unsichtbar das Gebirge; vom nächsten Nadelholz allenfalls mit der<br />
Zeit ein wenig zu sehen: beladen stand es, verlor sich rasch im Gebräu, und dann und<br />
wann entlud eine Fichte sich ihrer Überlast, schüttelte stäubendes Weiss ins Grau.»<br />
Thomas Mann beschreibt 1924 im ‹Zauberberg› weit mehr als den Schnee und den<br />
Winter. Er schildert die Auflösung der Landschaft, der Linien, der Gipfelkonturen. Wie<br />
wäre es, wenn sich auch die Kunst auslöschen liesse? Wenn eines der folgenreichsten<br />
avantgardistischen Werke im Schneegestöber vorübergehend seine Gestalt verlöre?<br />
Bethan Huws hat es ausprobiert und ein Pissoir in einer Schneekugel montiert.<br />
Es ist makellos weiss wie Marcel Duchamps ‹Fountain›, hat die gleiche Standardform<br />
und liegt ebenso um 90 Grad gekippt. Von Zeit zu Zeit rotiert das Urinal und löst einen<br />
kleinen Schneesturm aus. Es bringt sich damit selbst zum Verschwinden, um kurz<br />
danach wieder auf- und schliesslich erneut abzutauchen. Huws’ poetische Arbeit ist<br />
der schlüssige Auftakt für die Ausstellung zu Kreisläufen, zum unaufhörlichen, objektiven<br />
Verstreichen der Zeit und zur individuellen, oft nur momenthaften Erfahrung<br />
dieses Verstreichens. Früher war es eng verbunden mit dem Ticken der Uhren, wie<br />
es in der Ausstellung aus dem Schaufenster eines Antiquitätengeschäftes tönt: Die<br />
St. Galler Videokünstlerin Aleksandra Signer zeigt schemenhaft die Uhrengehäuse,<br />
das Ticken jedoch ist klar und deutlich, unerbittlich. Sekunde für Sekunde.<br />
Eng verknüpft ist das Thema Zeit auch mit der Eisenbahn: Der Taktfahrplan, die<br />
Schienenstösse, die Oberleitungsmasten geben den Rhythmus vor. Aleksandra Signer<br />
filmt aus dem TGV heraus und unter einer Eisenbahnbrücke; in einem Video von<br />
Barbara Signer ziehen die endlosen Güterzüge in der kalifornischen Wüste vorbei;<br />
von Roman Signer sind Materialien zur ‹Aktion mit einer Zündschnur zu sehen›, bei<br />
der er entlang der Bahnstrecke Appenzell–St. Gallen Explosionen auslöste.<br />
Das räumliche Zentrum der Ausstellung bilden Tatsuo Miyajimas drei Modellbahnzüge,<br />
die stetig in einem grossen Schienenkreis aneinander vorbeifahren. Auf<br />
ihren elf Waggons transportieren sie leuchtende Zifferanzeigen. Sie zählen in ihrem<br />
eigenen Rhythmus von neun herunter, nicht bis zur Null, sondern bis zum schwarzen<br />
Nichts. Dieser existenzialistischen Metapher antwortet Barbara Signers wehendes<br />
Kalenderblatt. Ein Luftstrom setzt es regelmässig in Bewegung. Wird es abreissen?<br />
Oder bleibt die Zeit doch für einen Moment stehen? Kristin Schmidt<br />
→ ‹On On Kawara›, Lokremise, Kunstmuseum, bis 6.11. ↗ www.kunstmuseumsg.ch<br />
94 <strong>Kunstbulletin</strong> 10/<strong>2022</strong>