2014-01
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Gesellschaft<br />
ERINNERUNGEN AN LIEBICHAU<br />
Flucht und Vertreibung<br />
Meine Mutter,<br />
mein Bruder<br />
Karlheinz,<br />
Tante Lena mit ihrem<br />
Sohn Gerd und ich,<br />
„Gittel“, wie ich damals<br />
genannt wurde, waren<br />
mit dem Auto meiner<br />
Tante Leda auf der<br />
Flucht von Liebichau in<br />
Schlesien in Richtung<br />
Westen. Mutter und<br />
Tante dachten, dass der<br />
Weg durch die Tschechei<br />
wohl der sicherere<br />
sei. Das war aber ein<br />
Trugschluss. Kurz vor<br />
Prag wurden wir angehalten und gezwungen, auszusteigen.<br />
Sofort wurde meine Mutter geschlagen und als „deutsches<br />
Schwein“ beschimpft. Ich heulte auf, aber Mutter Grete<br />
zischte mir zu: „Bis ock ruhig!“ Ich merkte, dass es keinen<br />
Zweck haben würde, zu heulen und war ruhig. Dann wurde<br />
das Auto mit unserer gesamten Habe konfisziert und weiter<br />
ging’s zu Fuß. Wir kamen zu einem großen Platz mit vielen<br />
Soldaten. Militärfahrzeuge fuhren, wie mir schien, immer<br />
im Kreis herum. Es war der 8. Mai 1945. Der Krieg war<br />
zu Ende.<br />
Etliche Flüchtlinge, denen es so wie uns ergangen war,<br />
sammelten sich auf dem Platz zu einem Treck und beschlossen,<br />
zu Fuß in die Heimat zurückzugehen. Auf dem Treck<br />
war es tagsüber heiß und in der Nacht bitterkalt. Mein zweijähriger<br />
Bruder wurde getragen. Ich musste laufen, denn ich<br />
war ja „schon“ vier. Nachts schliefen wir auf Wiesen, tagsüber<br />
gingen wir auf Feld- und Waldwegen. Es waren noch<br />
immer Tiefflieger unterwegs und wir mussten uns häufig verstecken.<br />
Das Geräusch der Flugzeuge habe ich noch heute in<br />
den Ohren und wenn ich es z. B. in alten Filmen höre, läuft<br />
es mir eiskalt den Rücken hinunter.<br />
Nach einiger Zeit erreichten wir Trautenau an der<br />
deutsch-tschechischen Grenze. Auf dem geschäftigen<br />
Bahnhof fuhren viele Dampfloks hin und her, wurden auf<br />
einer Drehscheibe auf neue Gleise gestellt, hängten Waggons<br />
an und ab, wurden mit Kohle und Wasser aufgefüllt und<br />
spieen dunkle, grau-schwarze Wolken in den Himmel. Ich<br />
schaute fasziniert zu. In einem abseits stehenden Waggon<br />
befanden sich Strohbetten, in die wir uns hineinlegen durften.<br />
Nach wenigen Tagen wurden wir mit unserem Waggon<br />
an einen Güterzug angehängt, der nach Waldenburg ging.<br />
Von dort fuhren wir mit der Straßenbahn nach Weißstein,<br />
zu den Eltern meiner Mutter.<br />
Foto: Archiv Lanko<br />
Tante Leda mit ihrem Auto (im Jahr1934)<br />
Die Weißsteiner Oma hieß auch Emma und der Opa Georg<br />
(Schorsch). Den Namen konnte die Oma jedoch nicht leiden<br />
und so nannte sie ihn „Fritze“. Opa Fritze war Fell- und Pferdehändler<br />
und notgedrungen auch Lumpensammler. Der Stall<br />
war noch da, aber Pferde hatte er 1945 keine mehr. In guter Erinnerung<br />
habe ich sein Zieharmonikaspiel. Dazu sang er damals<br />
wohl moderne Lieder, die mir aber nicht sonderlich gefielen.<br />
Ich fand eher die „Lilli Marleen“, gesungen von LaleAndersen,<br />
schön. Ein Grammophon mit langem Trichter und unzählige<br />
Schallplatten waren Opa Fritzes ganzer Stolz. Fritze war ein musisches<br />
Multitalent, davon zeugten viele Zeichnungen, meistens<br />
barbusige Varietédamen, die mich sehr interessierten.<br />
Mutter Grete bekam eine Wohnung mit großem grünen<br />
Kachelofen und gemütlicher Ofenbank zugewiesen, gleich<br />
neben dem Haus der Großeltern.<br />
Die Idylle währte nicht lange, es hieß, dass wir alle „evakuiert“<br />
werden sollten. Wir mussten unsere Sachen packen.<br />
Mitnehmen durften wir nur das, was wir selber tragen konnten.<br />
Das Haus von Oma und Opa wurde vom Militär verplombt.<br />
Vor dem Haus der Großeltern warteten wir bereits auf den Abtransport,<br />
als der Oma einfiel, dass sie ihr Gebiss vergessen<br />
hatte. Opa sah sich nach allen Seiten um, öffnete die Plombe,<br />
holte unbemerkt die Zähne und versiegelte fachmännisch die<br />
Tür. Ich hielt die ganze Zeit die Luft an, und fand nur Bewunderung<br />
für meinen Opa. Es war noch einmal gutgegangen.<br />
Auf dem Bahnhof in Waldenburg-Altwasser waren bereits<br />
viele Menschen eingetroffen, die in bereit stehenden Güterzügen<br />
auf ihren Weitertransport nach „Irgendwo“ warteten.<br />
Auch unser Zug setzte sich in Bewegung. Wir, Oma und Opa,<br />
Mutter, Bruder und ich, fuhren in Richtung Freiburg. Wir kamen<br />
durch Liebichau, wo am Gartenzaun Oma Emma und die<br />
kleine Grete winkten. Die Schiebetür am Waggon war einen<br />
Spalt weit geöffnet und so konnte ich zurückwinken. Ich &<br />
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