2014-01
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weiß nicht, ob Oma Emma und Grete uns gesehen haben und ich<br />
wusste nicht, dass die schöne Zeit jetzt ein für allemal vorbei war.<br />
Die Waggons waren völlig leer. Einige Insassen hatten<br />
Wäscheleinen, Bettlaken und Eimer mitgenommen; der Eimer<br />
ersetzte die Toilette. Eine Familie besaß eine Hängematte,<br />
in der ich auch liegen durfte. Wir waren tagelang unterwegs.<br />
Wenn der Zug langsamer wurde, schlugen Soldaten mit dem<br />
Gewehrkolben gegen die Türen. Ob ich Hunger, Durst oder<br />
Angst hatte, weiß ich nicht, und das ist wohl auch besser so.<br />
Nach einer Ewigkeit trafen wir in Vienenburg im Harz ein<br />
und kamen dort sofort in eine grüne Lagerbaracke. Ich erinnere<br />
mich, dass ich einen fürchterlich schmeckenden, blassrosafarbenen<br />
Pudding essen sollte, von dem mir schlecht wurde.<br />
Mich graust es noch heute, wenn ich nur die Farbe sehe.<br />
Später erhielten wir in Braunlage ein Zimmer in einem ehemaligen<br />
Kurhaus. Dazwischen zogen wir auf einen Bauernhof<br />
nach Osterode. Dort sah ich mich neugierig um und fand in<br />
einem Hühnerstall viele Küken. Ich nahm eins der niedlichen<br />
Tiere in die Hand und wollte es streicheln. Sofort hatte ich die<br />
Henne im Nacken, die auf mir herumhackte. Schreiend lief<br />
ich in den Hof und jemand befreite mich von der Bestie. Mit<br />
dem Federvieh schien ich kein Glück zu haben. Lange hielt es<br />
meine Mutter in dem Dorf nicht aus und so gingen wir wieder<br />
nach Braunlage zurück.<br />
Im August 1946 erhielt Mutter die Nachricht, dass meine<br />
Oma Emma aus Liebichau in Siegen im Stadtkrankenhaus<br />
liege und mich sehen wolle. Sie war gestürzt und<br />
hatte sich den Oberschenkelhals gebrochen. Wir fuhren<br />
eilig nach Geisweid. Ich freute mich sehr, meine geliebte<br />
Oma wiederzusehen. Erwartungsvoll betrat ich das Krankenzimmer<br />
und lief zu ihrem Bett, aber Oma erkannte<br />
mich nicht mehr. Sie hatte sich eine Lungenentzündung<br />
zugezogen, die von hohem Fieber begleitet wurde. Ich war<br />
tief enttäuscht, dass Oma mich nicht beachtete. Erst viel<br />
später habe ich begriffen, dass sie ja nichts dafür konnte.<br />
Sie ist kurz darauf verstorben und wurde in Geisweid, fern<br />
ihrer Heimat, begraben.<br />
Mutter fuhr zu ihren Eltern und meinem Bruder zurück<br />
nach Braunlage. Ich blieb in Geisweid bei Tante Lena. Ihr war<br />
ein Zimmer in einem Haus angewiesen worden, in dem sie<br />
die Küche mitbenutzen durfte. Wir durften dort nur den Hintereingang<br />
bzw. den Kellereingang benutzen. Zum Schlafen<br />
hatten wir Zimmer bei einer anderen Familie am Ende der<br />
Straße. Zu mir war man ganz nett. Weil ich so mager war und<br />
kaum etwas aß, bekam ich ganz dünn geschnittene, mit selbst<br />
gemachtem Pflaumenmus bestrichene Butterbrote. So etwas<br />
Köstliches hatte ich lange nicht mehr gegessen.<br />
Bei der ersten Familie – fromme Christen – durfte ich das<br />
Wohnzimmer betreten und der Tochter beim Klavierspielen<br />
zuhören. Das gefiel mir sehr. Weil ich keine Kleidung besaß,<br />
hatte die Familie mir ein gestricktes Kleid geschenkt. Die<br />
Tochter der anderen Familie nahm mich zu ihren Freundinnen<br />
mit. Die Mädchen besaßen Puppen, Puppenwagen und viele<br />
andere Spielsachen, mit denen auch ich spielen durfte.<br />
Mein Vater war 1946 aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft,<br />
in der Nähe von Kulmbach, entlassen worden.<br />
Er hatte irgendwie erfahren, dass es Lena und mich nach<br />
Geisweid verschlagen hatte. Mit einem Handwagen machte<br />
Foto: Archiv Lanko<br />
Wohnbaracken auf der Setzer Halde<br />
er sich zu Fuß, von Bauernhof zu Bauernhof, auf den Weg<br />
ins Siegerland. Nach vielen Wochen kam Vater schließlich<br />
in Geisweid an. Hier bekam er Arbeit bei den Geisweider Eisenwerken<br />
(heute Edelstahlwerke Südwestfalen). Uns wurde<br />
auf der „Setzer Halde“ eine einfache Werkswohnung zur<br />
Verfügung gestellt. Wieder in einer „grünen Baracke“, mit<br />
Plumpsklos in 100 m Entfernung. Möbel, und was man so<br />
brauchte, wurde uns geschenkt. Zur Wohnung gehörte auch<br />
ein Acker in Steilhanglage, der erst von Vater „mit meiner<br />
Hilfe“ urbar gemacht werden musste. Auf dem Feld gedieh<br />
nichts, außer Tabak. Vater hatte keineAhnung vomAckerbau<br />
und meine Mutter, die mittlerweile mit Bruder Karlheinz eingetroffen<br />
war, auch nicht. So wurden im Winter die im Sommer<br />
geernteten Tabakblätter getrocknet und geschnitten. Es<br />
wurde eine Maschine zum Drehen der Zigaretten angeschafft<br />
und ich drehte fleißig, Stück für Stück für Stück.<br />
Kurz hintereinander wurden weitere Werkswohnungen<br />
bzw. Baracken auf der Halde errichtet. Es zogen Flüchtlinge,<br />
Vertriebene und ausgebombte Familien dort ein. Hier fiel<br />
nicht weiter auf, dass ich schlesischen Dialekt sprach. Im<br />
April 1947 wurde ich eingeschult. Fast alle Kinder hatten<br />
eine Schultüte, nur ich nicht. Mein Vater fand im Müll eine<br />
halbe Schiefertafel, die er mir mitgab. Der Lehrer bemerkte<br />
mein „Prunkstück“. Ein Mädchen das zwei Tafeln hatte,<br />
musste mir eine ihrer Schiefertafeln abgeben. Sie war gar<br />
nicht erfreut und mir war es sehr peinlich.<br />
Etwa vierzig Kinder gingen in die Eingangsklasse der<br />
Geisweider Volksschule. Die I-Dötzchen waren zum größten<br />
Teil „Einheimische“, von denen viele nur Siegerländer Platt<br />
sprachen. Wenn ich vom Lehrer aufgerufen wurde und Fragen<br />
beantworten sollte, wurde wegen meines Dialekts gekichert<br />
und getuschelt, oder ich wurde ausgelacht. Zu meinem großen<br />
Glück kam unser Lehrer auch aus Schlesien. Schon sehr bald<br />
sprach ich hochdeutsch. Mit dem Siegerländer Platt konnte ich<br />
mich nie anfreunden.<br />
Meine Eltern lebten erst nach meiner Einschulung wieder<br />
zusammen. Vater musste mit zwei ihm eigentlich fremden<br />
vier und sechs Jahre alten Kindern zurechtkommen. Für<br />
mich war er ein fremder Mann. Er bemühte sich erfolglos,<br />
mir das Rechnen beizubringen. Wegen seiner Ungeduld<br />
hörte ich einfach nicht mehr zu. Schließlich gab er auf.<br />
Mir gefiel es sehr gut auf der Setzer Halde. Es waren immer<br />
Kinder zum Spielen da. Ringsherum waren Wiesen und<br />
Felder und wir streiften oft durch Wald und Flur. Spielsachen<br />
hatte ich kaum, und so waren die Sträucher und Wildblumen<br />
meine Gefährten. Ich konnte meiner Fantasie freien Lauf lassen<br />
und hatte eigentlich eine grenzenlose Freiheit.<br />
Brigitte Lanko<br />
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