2014-01
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Gesellschaft<br />
MICHEL UND DIE SUCHE NACH DEM GLÜCK<br />
Es war einmal vor vielen Jahren ein Bübchen. Es lebte<br />
bei seiner Mutter und beide hatten sich in einer kleinen<br />
Kate am Stadtrand für das Nötigste eingerichtet.<br />
Der Vater galt irgendwo in den Kriegswirren verschollen.<br />
Trotz der allgemeinen Armut zeigte Michel, so wurde das<br />
Kerlchen genannt, eine robuste Natur. Er wuchs zu einem<br />
fröhlichen Gesellen heran. Wie es ihm die Mutter gelehrt<br />
hatte, war er ehrlich und fleißig in der Schule. Er erlernte ein<br />
ordentliches Handwerk und es schien, als habe er sein Glück<br />
gefunden. Tagein, tagaus ging er redlich einer geordneten<br />
niederlassen, wo es sich billiger leben ließe. Dem Michel<br />
verdross dies sehr und er sann über sein Leben nach. Eines<br />
Tages fasste sich der brave Kerl ergeben ein Herz und trat<br />
mutig und arglos vor seinen Landesherrn. Dieser war ein<br />
großer, dicker und mächtiger Parteimensch und ein begeisterter<br />
Saumagenesser. Ganz erstaunt blickte der Landesvater<br />
auf, als er den Michel vor sich stehen sah, der ihn keck und<br />
mutig ansprach: „Sieh, Herr, ich habe dem Land nun rund<br />
vierzig Jahre treu gedient, meine Steuern redlich gegeben<br />
und mit meiner Stimme stets dafür gesorgt, dass du mächtig<br />
Karikatur: Matthias Neuser<br />
Arbeit nach, zahlte treu und brav seine Steuern, war sparsam<br />
und gab auch nicht mehr seines Lohnes aus, als er für sich<br />
und sein älter werdendes Mütterchen benötigte. Jedweden<br />
Taler, den er übrig hielt, steckte er in einen Sparstrumpf. Mit<br />
den Jahren wurde dieser dick und prall. Da Michel eine vernünftige<br />
Denkweise hatte, brachte er den Socken zu einer<br />
Bank. Er erhielt ein Büchlein, in dem man jedes Jahr ein<br />
paar Groschen zu der Sparsumme dazurechnete. Aus Michel<br />
wurde ein gestandener Mannskerl und er war glücklich, stolz<br />
und zufrieden mit seinem Tagwerk. So ging es viele Jahre.<br />
Doch je älter der Michel wurde, umso missmutiger sah<br />
er seine Umgebung. Ja, zuweilen beunruhigten ihn gar die<br />
Dinge, die sich rund um sein beschauliches Dasein sichtbar<br />
zeigten. Von seinem Handwerkslohn blieb ihm immer<br />
weniger und obwohl sein Mütterlein inzwischen verstorben<br />
war, lebte Michel wie gewohnt bescheiden. Mehr, größer und<br />
wohlgefälliger waren die Bauten in seiner Umgebung geworden.<br />
Michel aber liebte den kleinen Garten an seinem Häuschen.<br />
Hatte er doch aus der alten Kate ein kleines wohnliches<br />
Zuhause gezimmert und gestaltet. So lebte er unbekümmert<br />
im Herzen weiter, just bis sein Meister immer häufiger zu<br />
knausern und jammern begann. Der Meister klagte, Michel<br />
sei sehr wohl in seinem Handwerk immer treu und arbeitsam<br />
gewesen, aber er würde ihm einfach zu teuer. Er, der<br />
Meister wolle und müsse sich fortan in einem anderen Lande<br />
wurdest und du selbst und all deine Parteimenschen gut leben<br />
können. So konntest du viele Jahre die Geschicke des Landes<br />
der Dichter und Denker lenken, nun bitte ich darum, dass<br />
auch du mir etwas von den reichlich geernteten Gütern und<br />
Früchten abgibst.“ Der mächtige Landesvater strich sich über<br />
seinen satten und wohlgenährten Wams. Er überlegte nicht<br />
lange und sagte, dass er sich dem Michel gegenüber dankbar<br />
erweisen wolle. Er versprach ihm, dass von nun an seine<br />
Rente sicher sei. Ebenso wolle er dafür Sorge tragen, dass<br />
auch seine Ersparnisse erhalten blieben und sich fortan regelmäßig<br />
und großzügig mehren sollten. Glücklich beschwingt<br />
und außerordentlich dankbar begab sich nun Michel auf seinen<br />
weiteren Lebensweg. Da begegnete ihm eines Tages ein<br />
fröhlicher Reiter aus dem fernen Brüssel. Unbeschwert kam<br />
der Fremde daher galoppiert. „Ach, hast du es gut! Hoch zu<br />
Ross kannst du dir die Welt ansehen, während mich mein<br />
Glück fast erdrückt“, rief ihm der Michel entgegen. Der Reiter<br />
war vor Mitleid gerührt und erzählte dem unglücklich<br />
blickenden Michel die Geschichte von diesem Euro, der in<br />
der Lage sei sein D-Mark-wertes Glück nur halb so schwer<br />
zu machen. Er bot dem Michel an, die D-Mark in Euro zu<br />
tauschen. Michel war selig und willigte sofort in den Tausch<br />
ein. Von nun an waren das Bankkonto, die Versicherungen<br />
und die Abgaben nur noch halb so groß und die bisher so<br />
große Last des Glückes erschien ihm jetzt erträglicher. Beide<br />
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