Spielzeitheft 2012/13 ERFOLG - Theater Bielefeld
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Nach Kierkegaard lässt sich das Leben mit zwei Formen<br />
von Verzweiflung beschreiben: dem verzweifelten<br />
Sich-Abstrampeln in Notwendigkeiten und dem verzweifelten<br />
Sich-Abstrampeln in Möglichkeiten. Nun<br />
könnte man das verzweifelte Abstrampeln in Notwendigkeiten<br />
ja noch aushalten, denn offenbar geht’s nicht<br />
anders, was aber um Gottes willen ist mit all den Möglichkeiten<br />
und Verheißungen, die sich bieten und die<br />
man nur ergreifen und umsetzen muss, um ein erfolgreiches,<br />
segensreiches Leben zu führen?<br />
Unsere Gegenwart ist der permanente Dehnzustand:<br />
Von der einen Seite kommt eine Verheißung, von der anderen<br />
Seite kommt schon die nächste; man könne dies<br />
sein, man könne jenes sein und es geht immer noch besser.<br />
Permanent dehnen wir uns also über unsere eigentliche,<br />
eigene Mitte hinaus, zur einen, zur anderen, zu<br />
allen Seiten. Und bei jenen, bei denen es erfolgreich<br />
klappt, sieht es nüchtern betrachtet aus wie eine Überdehnung:<br />
Sozialgestörte basteln Finanzprodukte zusammen,<br />
die andere arm und sie reicher machen und<br />
mit denen sie sich am Ende auch noch Politiker kaufen<br />
oder blonde Starschauspielerinnen. Hochstapler und<br />
Spät pubertierende strömen in die Politik und bekommen<br />
Posten, bis sich relativ schnell ihr Dilettantismus entlarvt.<br />
Millionen von Kindern und Jugendlichen strömen in die<br />
Castingagenturen, um ein Star zu werden, egal wie.<br />
Man könnte jetzt Kierkegaard revidieren und fragen:<br />
Fühlen wir uns überhaupt noch notwendig vor lauter<br />
Möglichkeiten, möglichen, erfolgreichen Ich-Entwürfen?<br />
Überrennen also die Möglichkeiten die Notwendigkeiten,<br />
so dass wir die Pflichten vergessen und<br />
unsere gegenwart<br />
ist der permanente<br />
dehnzustand.<br />
permanent den Möglichkeiten hinterher rennen? Ein<br />
einziges, großes Gerenne von Individuen, denen kein<br />
moralisches Gesetz und keine Tradition mehr sagt,<br />
wer sie zu sein haben und wie sie sich zu verhalten<br />
haben, sondern deren einziges Gesetz zu sein<br />
scheint, erfolgreich zu werden?<br />
Dazu kommt noch ein weiteres, erschöpfendes Problem:<br />
Es reicht nämlich offenbar auch nicht mehr gut<br />
zu rennen oder das Spiel gut zu spielen, sondern man<br />
muss heute fragen: renne ich denn gerade in die beste<br />
richtung; ist das Spiel, das ich gerade spiele, überhaupt<br />
das richtige, das beste Spiel?<br />
Es gibt eine Untersuchung des Soziologen Alain<br />
Ehrenberg über unsere Gegenwart all der Möglichkeiten,<br />
gemeinhin wohl mit Multioptionsgesellschaft<br />
beschrieben. Das Buch heißt Das erschöpfte Selbst<br />
und darin steht der Satz: »Die Depression ist nicht die<br />
Krankheit des Unglücks, sondern die Krankheit des<br />
Wechsels, die Krankheit einer Persönlichkeit, die versucht,<br />
nur sie selbst zu sein: Die innere Unsicherheit<br />
ist der Preis für diese ›Befreiung‹.«<br />
Vermutlich ist das die neue Kultur des inneren Unglücks.<br />
Und sie hat allein damit zu tun, dass wir umstellt werden<br />
von Erfolgsmöglichkeiten, die wir leben könnten.<br />
Moritz Rinke<br />
Wir lieben und wissen nichts von Moritz Rinke<br />
hat am 15.02.<strong>13</strong> im <strong>Theater</strong> am Alten Markt Premiere.<br />
Die Stückbeschreibung finden Sie auf Seite 95<br />
Was Erfolg ist, kann man am besten verstehen, wenn<br />
man sich Hollywood anschaut. In Hollywood sind<br />
alle, die man kennt, erfolgreich. In Hollywood tragen<br />
die, die man kennt, die prächtigsten Kleider, sie<br />
liegen wie Farrah Fawcett am Pool, werden photographiert<br />
wie Meisterwerke, feiern in Bungalows die<br />
wildesten Parties und leben nach Pacific Standard<br />
Time. In Hollywood lebt man frei und unbeschwert,<br />
heißt John, Jack oder Gilda und lässt sich in den<br />
größten und teuersten Autos herumfahren, was heute<br />
noch wichtiger ist als früher. Heute sind die Wege<br />
weiter und zu Fuß gehen ist beschwerlicher und die<br />
Studios sind mehr als doppelt so groß wie früher und<br />
Paramount ist sehr groß und Warner Brothers ist auch<br />
ziemlich groß und niemand, der heute in Hollywood<br />
lebt, muss noch hungern, denn hungern war früher,<br />
als die Zeiten noch nicht so waren wie jetzt und viele<br />
noch dachten: Gold graben, das ist es, dabei ist es<br />
Film. Und wenn man Hollywood verstanden hat, dann<br />
muss man so ziemlich nichts anderes mehr verstehen,<br />
weil man dann schon eine ganze Menge verstanden<br />
hat, und man kann nicht alles verstehen. Wer in Hollywood<br />
Erfolg haben will, sollte aussehen wie ein Held,<br />
Held ist am besten, und das ist in <strong>Bielefeld</strong> nicht anders.<br />
Heldin ist auch ziemlich gut, aber meist nicht so<br />
gut bezahlt, weshalb Frauen auch in Hollywood eher<br />
von Altersarmut betroffen sind als andere. In Hollywood<br />
muss man sein wie alle anderen, nur viel viel<br />
besser, dann kommt der Erfolg, dann hält die Welt<br />
an und staunt: wie kann jemand so groß sein und so<br />
schön und so überirdisch und so himmlisch! Wie kann<br />
das sein, und sollte man den nicht besser bezahlen.<br />
Und jetzt kommt was Trauriges: alle diese Menschen<br />
6 7<br />
w a s<br />
erfolg ist<br />
aus Hollywood, die man kannte, sind gestorben,<br />
und alle, die man kennt, werden noch sterben, so ist<br />
Carole Lombard zum Beispiel gestorben. Sie ist trotz<br />
großem Erfolg und großer Schönheit und Glamour<br />
und allem gestorben. Und das ist dann auch seltsam,<br />
wenn man daran denkt, wer da noch alles gestorben<br />
ist, also umgebracht wurde, wie komisch das ist: dieses<br />
großartige Hollywood und was alles gleichzeitig<br />
passiert. Und die Welt wunderte sich sicher, dass so<br />
jemand hat sterben können, wie die Carole Lombard,<br />
und das ist wirklich traurig, dass sie gestorben ist. Es<br />
ist nach ihrem Tod auch nichts wieder gut geworden,<br />
so wie überhaupt nach 1942 nichts wieder gut geworden<br />
ist, auch wenn man allerorten hört, alles sei<br />
wieder gut geworden. Und alle Filme sind über kurz<br />
oder lang Leichenschauhäuser, und es gibt nichts, was<br />
trauriger ist, als schwarz-weiß Filme, weil alle, die da<br />
jung und schön im Film herumspringen und so tun, als<br />
wäre dieses junge und schöne Herumspringen und<br />
die Leidenschaften und alles für die Ewigkeit, jetzt tot<br />
sind, und wenn sie jetzt nicht tot sind, dann sind sie<br />
bald tot. Und To Be or Not to Be war besonders, weil<br />
von Anfang an ein Leichenschauhaus.<br />
Anne Lepper<br />
Anne Leppers Käthe Hermann erlebte im Januar <strong>2012</strong><br />
seine Uraufführung im TAM DREI und wurde zum<br />
Mülheimer Stückemarkt eingeladen.