Am Scheideweg - FWF
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PANOPTIKUM » Persönliche Paradigmen<br />
Die wirklich fundamentalen Dinge<br />
entstehen in der Grundlagenforschung<br />
» Friedrich Stadler Sie sind ein<br />
hoch dekorierter Wissenschafter,<br />
in verschiedenen Disziplinen<br />
beheimatet und auch dementsprechend<br />
interdisziplinär zwischen Informatik,<br />
Mathematik und Musik unterwegs. Wo<br />
würden Sie sich in der Wissenschaftslandschaft<br />
zuordnen, oder ist das eine<br />
hybride Existenz?<br />
» Gerhard Widmer Nein, ich führe eine<br />
ganz normale Existenz. Ich bin von der<br />
Ausbildung her Informatiker, mein Forschungsbereich<br />
ist die künstliche Intelligenz,<br />
und dort speziell das maschinelle<br />
Lernen. Ich bin kein ausgebildeter Musik-<br />
wissenschafter – das würde ich auch nie<br />
behaupten. Ich bin zu Hause in der Artificial<br />
Intelligence und mache halt Sachen<br />
mit Musik mit halbwegs fundiertem Hintergrund.<br />
Dass die Leute immer glauben,<br />
das sei so schwer einzuordnen, liegt daran,<br />
dass für viele Leute Musik etwas ist,<br />
von dem sie nicht glauben, dass Computer<br />
damit etwas anfangen können.<br />
» Stadler Ist es Zufall, dass der Zusammenhang<br />
zwischen Informatik, Mathematik<br />
und Musik historisch immer schon ein<br />
enger war, oder ist das eine späte Entdeckung<br />
des Computerzeitalters?<br />
» Widmer Ich glaube nicht, dass es Zufall<br />
ist. Jedem, der sich mit Musik fundiert<br />
beschäftigt und weiß, was Mathematik eigentlich<br />
ist, ist klar, dass Musik und Mathematik<br />
ganz ähnliche Dinge sind. Beide<br />
sind hochstrukturierte Artefakte und Systeme,<br />
die der Mensch konstruiert hat, und<br />
wo es um Bestandteile geht und darum,<br />
die Beziehung dieser Bestandteile zu erforschen.<br />
Mich interessiert die Beziehung zwischen<br />
diesen Bestandteilen; Musik als etwas,<br />
was auf Menschen wirkt, was von Menschen<br />
gemacht wird, einerseits beim<br />
Komponieren, aber auch beim Reproduzieren<br />
und natürlich beim Wahrnehmen.<br />
» Manche Leute glauben ja, je mehr man Musik<br />
intellek tuell durchdringt, desto weniger kann<br />
man sie genießen. Ich glaube nicht, dass diese<br />
beiden Dinge gegenläufig sind. « Gerhard Widmer<br />
48 »<strong>FWF</strong>info72<br />
» Stadler Wo gibt es Grenzen der Analyse<br />
und der mathematischen Erfassung von<br />
Musik?<br />
» Widmer Zunächst müsste man definieren,<br />
was man mit Erfassung meint. Natürlich<br />
gibt es Gesetzmäßigkeiten, Muster,<br />
Regeln. Aber auch ein klassisches Musikstück,<br />
das noch nach relativ strikten Regeln<br />
komponiert ist, lässt dem Komponisten<br />
eine riesige Menge von Freiheiten.<br />
Es lässt sich nicht vorhersagen, wie ein<br />
Komponist diese oder jene Situation musikalisch<br />
meistern wird. Allgemein würde<br />
ich die These wagen, dass jede Art von<br />
Musik bestimmte Aspekte von Form und<br />
Struktur aufweist, die man – auch musikalisch<br />
– beschreiben kann.<br />
» Stadler Das heißt, der Komplexitätsgrad<br />
ist hier keine natürliche Begrenzung Ihrer<br />
Untersuchung. Prinzipiell sind alle Muster<br />
technisch erfassbar.<br />
» Widmer Man müsste wirklich sagen, was<br />
man eigentlich erfassen möchte. Musik hat<br />
viele Aspekte. Will ich beschreiben, wie<br />
die Töne in einer Komposition aneinandergefügt<br />
sind und wann welche Dissonanz<br />
sich wie auflöst, wie es Musikwissenschafter<br />
tun, oder will ich beschreiben – was<br />
wir in einer unserer Forschungsrichtungen<br />
tun –, wie Interpreten ein Musikstück, das<br />
schon komponiert ist, spielen und ihm ihren<br />
eigenen Ausdruck verleihen? Das ist<br />
eine komplett andere Frage und verlangt<br />
nach anderen Modellen, nach anderen Algorithmen,<br />
aber zunächst nach einer präzisen<br />
Fragestellung. Musik zu erfassen<br />
kann sehr vieles heißen.<br />
» Stadler Die Diskussion im ästhetischen<br />
oder erkenntnistheoretischen Bereich ist<br />
ja nicht neu, beispielsweise, ob in musikalischen<br />
Werken selbst Kriterien des<br />
Schönen oder der Qualität inhärent sind,<br />
oder ob das subjektive Zuschreibungen<br />
sind. Sie sind ja auch selbst Musiker, ist<br />
das für Sie ein Thema?<br />
» Widmer Privat vielleicht, aber nicht wissenschaftlich.<br />
Das ist wissenschaftlich<br />
weit von dem, was ich annähernd mit unseren<br />
Methoden beantworten kann. Ich<br />
bin kein Philosoph oder Erkenntnistheoretiker,<br />
und ob die Schönheit objektiv ist,<br />
im Auge oder Ohr des Betrachters, diese<br />
Frage stellt sich mir gar nicht, ehrlich gesagt<br />
nicht einmal als Musiker.<br />
Fotos: <strong>FWF</strong>/Marc Seumenicht, iStockphoto