Heimatbote 2012_Online Version - Nadesch
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Besonders der Durst plagte mich sehr. Ich begann mir vorzustellen,<br />
wie der erste Schluck Wasser schmecken würde. Die Gier nach Indian<br />
Tonic Water beherrschte mich ganz stark. Nach einiger Zeit gesellte<br />
sich neben eine 1,5-Liter Plastikflasche Tonic, die ich jüngst in<br />
Frankreich kennengelernt hatte, ein großer Becher mit Vanilleeis. Erst<br />
waren es sechs Kugeln, dann zwölf. Seltsame, schlumpfähnliche,<br />
winzige Wesen spannten grinsend ihre blauen, grünen und roten<br />
Sonnenschirmchen aus Krepppapier auf, legten sich darunter und<br />
begannen mit Plastiklöffelchen ihre Unterlage aufzuessen. Die<br />
Eiskugeln wurden aber nicht kleiner, sondern sie wuchsen erstaunlich<br />
schnell und hatten bald die Ausdehnung von Tennisbällen und<br />
schließlich sogar von Handbällen. Dies ergötzte die kleinen Wesen<br />
anscheinend so sehr, daß sie zu tanzen anfingen, zunächst jedes für<br />
sich, dann alle im Kreis, immer schneller, immer schneller, immer<br />
schneller. Sie waren nicht mehr von einander zu unterscheiden. Das<br />
zunächst leise und dann immer lauter werdende scheppernde Geräusch<br />
kannte ich.<br />
Ich sah genauer hin. Die Wesen waren verschwunden und die<br />
runzelige Hand meiner damals über 85-jährigen Urgroßmutter, Grißi<br />
genannt, rührte mit einem emaillierten Schöpflöffel rhythmisch in<br />
einer mir wohlbekannten, ebenfalls emaillierten Schüssel, innen<br />
hellblau, außen dunkelrot. Grißi rührte in einer fast vollen Schüssel<br />
Vogelmilch. Ich muß damals ungefähr neun Jahre alt gewesen sein<br />
und wartete mit sicher ganz weit aufgerissenen Augen auf meine<br />
Kelle. Vogelmilch gab es gelegentlich an sehr warmen Tagen zum<br />
Mittagessen. Es war mit Vanillegeschmack versetzte und mit viel<br />
Honig gesüßte Milch, in der schneeweiße Flocken von steif<br />
geschlagenem Eiweiß schwammen. Wir saßen im Garten an einem<br />
langen Tisch unter einem Birnbaum und zwei Tannen neben dem<br />
Schafstall. „Wer bekommt heute zuerst?“ „Ich!“ Mein Bruder Seppi<br />
streckte unmißverständlich seinen Teller hin. „Jetzt ich! Jetzt ich!“<br />
Grißi tat, als höre sie mich nicht. Hertamaria, meine Schwester, meine<br />
Mutter, Omama. Marthatante und sie selbst löffelten alle bereits die<br />
Vogelmilch. „Joi! Karli! Dich habe ich ja ganz vergessen. Weil Du<br />
aber so bescheiden warst, bekommst Du einen Extralöffel Honig.“<br />
„Schaut, wie er jetzt strahlt! Gib ihm doch bitte zwei Extralöffel!“<br />
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