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HEUTE 055<br />
herCules anD love aFFair<br />
Der Tanz Der Liebe<br />
Drei Jahre nach dem sensationellen Erstling, der die Band mit dem Überhit »Blind« 2008 auf Platz 1 der <strong>Intro</strong>-<br />
Autorencharts brachte, veröffentlichen Hercules And Love Affair den Nachfolger »Blue Songs«. Statt Antony<br />
Hegarty von Antony And The Johnsons konnten sie diesmal Kele als Gastsänger gewinnen. Gemeinsam<br />
feiern sie die Geschichte der Housemusik und Auflösung von Kategorien wie männlich und weiblich.<br />
Sebastian Ingenhoff gestand Kim Ann Foxman und Andy Butler seine Liebe. Foto: Katharina Poblotzki<br />
Boys In Bikinis<br />
andy Butler spannt den Bizeps an. Er trägt<br />
beinahe nichts, lediglich ein schwarzer,<br />
knapp geschnittener Slip verhüllt das Notwendigste.<br />
Der von naturroten Brusthaaren<br />
geprägte Leib der mother in the house<br />
of Hercules ist muskulös zu nennen, ein bisschen<br />
Sonne könnte er vielleicht vertragen. Die<br />
männliche Pose macht durchaus Sinn, erinnert sie doch<br />
an das Logo der Paradise Garage, von jenem Epizentrum<br />
schwuler Ekstase im New York der späten Siebziger- und<br />
frühen Achtzigerjahre.<br />
Das Publikum in der Düsseldorfer Phillipshalle schwankt<br />
noch zwischen Irritation und Begeisterung, manchen fällt<br />
vor Schreck die Bratwurst aus der Hand, andere feiern die<br />
spontane Entblößungseinlage mit Beifall und Pfiffen. Dann<br />
verschwindet Butler wieder hinter seinem Gerätepark und<br />
überlässt die Show dem schillernden Fronttrio, das sich<br />
aktuell aus Kim Ann Foxman, Shaun Wright und Aerea<br />
Negrot zusammensetzt. Hinter den Instrumenten befindet<br />
sich neuerdings auch Ex-Meat-Beat-Manifesto Mark Pistel.<br />
Kim Ann stampft in Schlabberhose und New-York-Kings-<br />
Käppi rhythmisch zum Beat mit dem Fuß auf, Aerea trägt<br />
Glatze, Shaun verhüllt die Rick-James-Frisur gewohnt mit<br />
einer Art Turban. Der Drumcomputer TR-909 rattert vor<br />
sich hin, alles ist in Bewegung, die Stücke fließen nahtlos<br />
ineinander. »It’s time to jump«, heißt es passenderweise in<br />
dem High-NRG-Hit des neuen Albums, »Visitor«.<br />
Hercules And Love Affair sind erstmals in Deutschlands<br />
großen Hallen unterwegs, als Support-Act für The Gossip.<br />
Doch nicht alle in dem seltsam gemischten Publikum können<br />
mit dem Voguingspektakel etwas anfangen. Von dem jungen<br />
an mir vorbeiflüchtenden Burschen wird das exzentrische<br />
Gepose gar als »Tuntenshow« abqualifiziert. Auch wenn<br />
queere ästhetiken über Künstlerinnen wie Lady Gaga in<br />
abgeschwächter Form wieder Einzug in den Mainstream<br />
gehalten haben und kuriose Begriffe wie »Gender Mainstreaming«<br />
offiziell auf der politischen Agenda auftauchen,<br />
scheint diese Band also noch Verwirrung stiften zu können.<br />
Die neuen Mitglieder Shaun und Aerea werden in Rezensionen<br />
von beispielsweise Tonspion als »geschlechtertechnisch<br />
nicht eindeutig zuzuordnend« klassifiziert. Kim Ann<br />
Foxman ist die »lesbische Frontfrau«. Über Butler heißt es,<br />
sein knappes Outfit sei Ausdruck des Wunsches, nach der<br />
Show Männer abschleppen zu wollen.<br />
Flamboyanz und Disco-Exaltiertheit haben längst wie-<br />
der ihren Weg auf die Bühnenbretter dieser Welt gefunden.<br />
Die arte-Sendung »Tracks« wollte kürzlich schon ein<br />
Camp-Revival ausgemacht haben und zog zum Beweis die<br />
italienische Divine-Wiedergängerin Hard Ton heran, die im<br />
letzten Jahr durch Releases auf Gigolo Records und Permanent<br />
Vacation auffällig geworden war. Die 150 Kilo starke,<br />
biologisch männliche Kunstfigur zwängt ihren behaarten<br />
Körper in enge Lederkorsagen und High Heels und bietet<br />
einen musikalischen Parforceritt durch die Frühphase der<br />
elektronischen Tanzmusik: von Disco über High-NRG bis<br />
zum jackin’ Chicago-House. Disco ist überall, ob in Form unzähliger<br />
Edits, Re-Issues oder DJ-Kollektive wie Horse Meat<br />
Disco, die ihre Bühnendeko schon mal im Stil der Paradise<br />
Garage ausrichten. Disco-DJ-Legende Larry Levan würde<br />
Disco Demolition<br />
Night<br />
1979 kulminierte die von<br />
manchen nicht zu Unrecht<br />
als homophob und rassistisch<br />
empfundene »Disco Sucks«-<br />
Kampagne in der »Disco Demolition<br />
Night« im Chicagoer<br />
Comiskey Park. Die Besucher<br />
eines Baseballspiels wurden<br />
über Radio dazu aufgerufen,<br />
sich ihrer Discoplatten zu<br />
entledigen und diese öffentlich<br />
zu verbrennen. Unter<br />
den verfeuerten Platten fand<br />
sich jedoch nicht nur der inkriminierte<br />
»Discokitsch«,<br />
sondern im Prinzip alles,<br />
was unter dem Begriff Black<br />
Dance Music firmierte. Produzent<br />
Nile Rodgers fühlte<br />
sich bei der Aktion sogar an<br />
die Bücherverbrennung von<br />
1933 erinnert.<br />
vermutlich gegen den Sargdeckel hämmern,<br />
wüsste er von dem ganzen Wahnsinn.<br />
Das vor drei Jahren erschienene Debütalbum<br />
von Hercules And Love Affair bezog<br />
sich explizit auf jene ära nach 1977, als in New<br />
York die Paradise Garage eröffnet hatte und<br />
Levan als einer der ersten DJs anfing, Platten<br />
ineinander zu mixen. Disco hatte sich nach<br />
»Saturday Night Fever« und »Disco Demolition<br />
Night« zurück in die schwulen Clubs gezogen und<br />
erreichte musikalisch die vielleicht interessanteste<br />
Phase. Butler, der als 1978er-Jahrgang die Paradise<br />
Garage wie die meisten Disco-Wiedergänger niemals<br />
von innen gesehen hat, fühlte sich vor allem von der<br />
Anything-goes-Attitüde jener Tage inspiriert.<br />
Disco und Avantgarde gingen Hand in Hand, ein Label<br />
wie ZE Records hatte sowohl Künstler wie Kid Creole<br />
And The Coconuts, Casino Music und Don Armando<br />
im Gepäck als auch den experimentelleren Antirock von<br />
Lydia Lunch, Alan Vega oder James Chance. In den Clubs<br />
kultivierte man derweil den Exzess. Orte wie die Paradise<br />
Garage und später das Warehouse in Chicago galten als