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068 HEUTE<br />
Blink 182 oder der Bloodhound Gang blieb ihm der große<br />
Durchbruch aber versagt. Nerf Herder lösten sich 2003 auf.<br />
Ihr humorvoller »Can’t Get A Date«-Punk (Eigenbeschreibung)<br />
blieb – abgesehen von ihrem Titelstück zur TV-Hitserie<br />
»Buffy« – etwas für Eingeweihte. Heute existiert die Band<br />
lediglich als eine Art Hobby wieder.<br />
»Wir hatten damals ein Label, haben Musikvideos produziert.<br />
Aber irgendwann wurde sehr deutlich, dass ich nie<br />
davon würde leben können«, erinnert sich Gripp. »<strong>Als</strong>o habe<br />
ich mit der Musik aufgehört, um in unserem Betrieb zu<br />
arbeiten – meiner Familie gehört eine Pflanzenschule hier<br />
in Santa Barbara. Eine Art Orchideen-Farm. Ich war gerade<br />
dabei, mein gesamtes Musik-Equipment zu verkaufen, als<br />
diese E-Mail kam.«<br />
Eine Flucht aus dem Knast namens Liebeslied<br />
Parry Gripps Sinnkrise wurde 2003 jedoch nicht nur von<br />
finanziellen Nöten ausgelöst. Er sah auch als Songwriter<br />
inhaltlich keine Perspektiven mehr. Die Pop-Etikette, die<br />
vorsieht, dass Songs zu circa 95 Prozent von Liebe oder<br />
Herzschmerz zu handeln haben, obwohl nur ein geringer<br />
Teil des alltäglichen Lebens damit zusammenhängt, war<br />
schon zu Nerf-Herder-Zeiten nichts für ihn.<br />
»Bei mir war es genau wie bei Schauspielern. Da gibt es<br />
die Typen, die gute Comedians sind, und da gibt es die eher<br />
ernsten Schauspielertypen. Deren Karrieremöglichkeiten<br />
werden oft schon alleine durch das Aussehen bestimmt.<br />
Ich habe am Anfang meiner Bandkarriere versucht, ernste<br />
Songs zu schreiben, dann aber feststellen müssen, dass ich<br />
von den Leuten paradoxerweise viel ernster genommen<br />
werde, wenn ich witzige Songs schreibe.«<br />
Doch auch der Weg des ironisch gebrochenen 3-Minuten-<br />
30-Songs schien ihm nun, 2003, kaum noch gangbar. Dann<br />
kam besagte E-Mail. Ein Bekannter fragte Gripp darin, ob<br />
er sich vorstellen könne, einen halbminütigen Werbesong<br />
zu schreiben. Thema: eine neue tiefgefrorene Waffelart.<br />
Innerhalb weniger Tage entstand das nach Buzzcocks oder<br />
Ramones klingende, beklemmend eingängige »Do You Like<br />
Waffles?«. Der Song dauert exakt 31 Sekunden.<br />
Ein Song pro Woche – bis 2018<br />
Schon »Do You Like Waffles?«, der erste von Hunderten<br />
Parry-Gripp-Songs nach dem immer gleichen Muster (1.<br />
unter einer Minute Länge, 2. eingängig, 3. einfaches Thema,<br />
4. jeder erdenkliche Musikstil herzlich willkommen), brachte<br />
die erste Kontroverse: Der Songwriter war davon begeistert,<br />
die Werbefirma wollte ihn nicht. Folge: Der Song fand nie in<br />
einer Werbung Verwendung. Gripp war das damals schnell<br />
egal – und ist es heute erst recht: »Do You Like Waffles?«<br />
hat wie etliche seiner Songs mittlerweile fast 10.000.000<br />
Zugriffe alleine auf YouTube.<br />
»Mir gefiel das Song-Format damals auf Anhieb«, erinnert<br />
sich Gripp an seine ersten Versuche im heimischen<br />
Schlafzimmer-Studio in Riechnähe zu seinen Orchideen.<br />
»Kurze Stücke, die ich meinen Freunden zum Spaß schicken<br />
konnte. Ich habe dann einige mehr aufgenommen, und mit<br />
der Zeit entwickelte sich eine Art Karriere daraus.«<br />
Zunächst schrieb Gripp zahllose Werbesongs zu fiktiven<br />
Produkten – ungefähr einen pro Woche –, die 2005 im Album<br />
»For Those About To Shop We Salute You« mündeten. 2008<br />
griff er die Idee, einen Song pro Woche zu schreiben, wieder<br />
auf. Jetzt stellte Gripp die Songs allerdings, häufig begleitet<br />
von selbst gemachten Videos, auch wöchentlich gratis online<br />
Parry Gripp –<br />
die Lieblingssongs der<br />
<strong>Intro</strong>-Redaktion:<br />
»Spaghetti Cat«<br />
»Cat Flushing A Toilet«<br />
»Nom Nom Nom Nom<br />
Nom Nom Nom«<br />
»Pile Of Kittens«<br />
»Soccer Ball (In The Face)«<br />
»Hero Rats«<br />
»Paul The Octopus«<br />
»Dog With A Box On His<br />
Head«<br />
Mit Werbesongs<br />
scheitern<br />
... passiert übrigens auch Großen<br />
der Indie-Branche. Das<br />
genialische Duo Ween bekam<br />
2002 von Pizza Hut den Auftrag,<br />
einen Werbesong für eine<br />
neuartige Pizza zu schreiben,<br />
deren Rand Käse enthielt.<br />
»Where’d The Cheese Go?«<br />
– im Song wird darauf mit<br />
»I don’t know!« geantwortet<br />
– wurde ein großartiges,<br />
eingängiges Kleinod. Pizza<br />
Hut lehnte das Lied jedoch<br />
dankend ab. Ween texteten<br />
daraufhin wütend eine Version,<br />
in der gesungen wird:<br />
»Where’d the motherfuckin’<br />
cheese go at?«<br />
Veröffentlichungsrhythmus<br />
Auch bekanntere Bands lösen<br />
sich in letzter Zeit auffällig<br />
kreativ vom bekannten<br />
12-Song-Album-Rhythmus.<br />
Ash veröffentlichen seit 2007<br />
nur noch einzelne Singles,<br />
die unmittelbarer herausgebracht<br />
werden und erst später<br />
als Single-Compilations<br />
erscheinen. Ähnliches planen<br />
die Flaming Lips für 2011: Sie<br />
wollen ebenfalls nicht mehr<br />
jahrelang an den gleichen<br />
Songs arbeiten, bis sie als<br />
Album erscheinen, sondern<br />
ab sofort jeden Monat einen<br />
neu aufgenommenen Song<br />
einzeln veröffentlichen. <strong>Als</strong>o<br />
Parry Gripp in langsamer.<br />
und verkaufte sie parallel über iTunes. Sein Durchbruch in<br />
der digitalen Welt, von dem er mittlerweile leben kann. Mit<br />
regelmäßigen Aussetzern hält Gripp seinen ungewöhnlichen<br />
Wochen-Rhythmus seitdem durch. Wenn es nach ihm geht,<br />
insgesamt über zehn Jahre. Bis 2018. »Früher«, erinnert sich<br />
Gripp sichtlich glücklich, »war es immer ermüdend, Songs<br />
zu schreiben, weil jeder besonders gut und möglichst einfallsreich<br />
daherkommen sollte. Bei einem Song pro Woche<br />
kann ich stattdessen heute sagen: ›Der Song ist nicht ganz<br />
so toll, aber hey, der nächste Woche wird bestimmt besser.‹«<br />
Die Songs von Parry Gripp haben sich seit einiger Zeit<br />
thematisch gefunden. Gripp singt vor allem über Essen und<br />
sein Lieblingsthema Tiere. Häufig lässt er sich zu seinen<br />
Songs von YouTube-Videos wie jenen inspirieren, in denen<br />
Besitzer ihre Katzen dabei filmen, wie sie Toilettenspülungen<br />
bedienen. Oder dem, in dem Hunde mit Schachteln über dem<br />
Kopf durchs Zimmer irren. Oder dem mit dem Hamster, der<br />
Klavier spielt. Oder ... »Tiere eignen sich, weil sie unpolitisch,<br />
alltäglich und total positiv besetzt sind«, erklärt Gripp den<br />
Erfolg seiner Songs im Netz. »Beim Thema Essen verhält<br />
es sich ganz genauso, deshalb sind das wohl auch meine<br />
beiden Leitmotive.«<br />
Längst ist Parry Gripp zu einem Kuschel-Seismografen<br />
geworden, der die niedlichsten Hypes im jugendfreien Netz<br />
kommentiert, multipliziert oder sogar erst anschiebt. Wie<br />
im Fall des deutschen WM-Kraken Paul (»Paul the octopus<br />
/ You pick a winner / While you eat your dinner«) wird er<br />
mittlerweile aber auch mit Fan-E-Mails bombardiert und<br />
genötigt, gezielt Songs zu schreiben. »Paul war auch hier<br />
in den USA schon sehr berühmt. Dennoch habe ich den<br />
Hinweis dankend angenommen, weil man ja bei einem<br />
Song pro Woche immer auf der Suche nach Ideen ist. Die<br />
Reaktionen auf den Song und den Kraken waren übrigens<br />
sehr außergewöhnlich. Die Leute liebten ihn oder hassten<br />
ihn. Extrem auffällig, was dieser kleine Krake mit den Menschen<br />
anstellte.«<br />
Zwischen Banalisierung und Weltruhm<br />
Keine Frage: Parry Gripps Songs wirken entwaffnend,<br />
vielleicht naiv. Sie werden die Welt schwerlich verändern.<br />
Aber welche Songs tun das schon? Immerhin sind seine<br />
Stücke in erschreckender Regelmäßigkeit bereits nach 30<br />
Sekunden gemeingefährliche Ohrwürmer, veritable Hits.<br />
Außerhalb des Internets finden sie und sein Erschaffer<br />
trotzdem nicht statt. Zu ungewohnt oder künstlerisch<br />
irrelevant erscheinen Musikmedien offenbar die kurzen<br />
Songs. Ihr zugrunde liegender Veröffentlichungsrhythmus,<br />
der ohne regelmäßige Alben, Tourneen (und entsprechende<br />
Promotion) auskommt, die kindliche Inszenierung zwischen<br />
Die ärzte und Outsider Art tun ihr Übriges. Medial ist<br />
Parry Gripp eine Persona non grata. An Reichweite oder<br />
Fans mangelt es Parry Gripp trotzdem nicht. Einige seiner<br />
Videos, wie der Ohrwurmfluch »Nom Nom Nom Nom<br />
Nom Nom Nom«, haben 12 mILLIoNeN VIewS auf<br />
youtuBe. zwaR NuR eIN dRItteL VoN Lady<br />
gagaS »teLePHoNe« – aBeR dReImaL So VIeL<br />
wIe daS Letzte ReVoLVeRHeLd-VIdeo. NICHt<br />
wIRkLICH SCHLeCHt füR eINeN SoNg, üBeR<br />
deN NIemaNd SCHReIBt uNd IN dem NuR eINe<br />
SILBe geSuNgeN wIRd.