der BerG ist kulisse - 041 Kulturmagazin
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Buchmesse<br />
frischer Wind aus nord-süd<br />
o<strong>der</strong> Begegnungen mit abwesenden<br />
MC Graeff schlen<strong>der</strong>t über die Buchmesse Frankfurt,<br />
findet we<strong>der</strong> Hot Spots noch geheime Ecken und schreibt<br />
folglich abermals am Thema vorbei.<br />
Vorab: Den anwesenden luzerner Verlegern und autorinnen geht<br />
es gut, sie lassen grüssen, werden aber aus Platzgründen nicht<br />
weiter erwähnt.<br />
Das war es wie<strong>der</strong>: 7384 aussteller aus 106 län<strong>der</strong>n, 3200 Veranstaltungen<br />
mit etwa 280'000 Besuchern … in Zeiten <strong>der</strong> Energiesparlampen<br />
kein schlechter auftrieb für hotl<strong>ist</strong>-titel wie «Bleib,<br />
wie du b<strong>ist</strong>», «Wie wir werden, was wir waren», «Wie wir endlich<br />
werden könnten, was wir nie werden wollten», «Wie wir würden,<br />
was wir sollten, wenn wir müssten» und <strong>der</strong>lei mehr. am stand<br />
von Philo fine arts finde ich meine Wunsch-messemotti: «Die<br />
lust am Unseriösen» (sie fehlt inzwischen lei<strong>der</strong> fast ganz …),<br />
«Praktiken des sehens im felde <strong>der</strong> macht» (… genau wie die eigentlich<br />
wohlverdiente alters-Weitsicht als ausgleich <strong>der</strong> medialen<br />
kurzsichtigkeit), «immer radikal, niemals konsequent» (eine<br />
Dokumentation über den berüchtigten, stets konkursen märZ-<br />
Verlag) und «Derrida <strong>ist</strong> nicht zu hause. Begegnungen mit abwesenden».<br />
(Eben: am stärksten definiert sich diese messe durch all<br />
die, welche nicht mehr dabei sind und all jene, die nächstes mal<br />
nicht mehr kommen wollen.) Und «merve o<strong>der</strong> Was war theorie?»<br />
– solche titel kann man heute nur noch mit einem starken<br />
financier drucken lassen; den hat <strong>der</strong> Verlag. Doch es heisst, er<br />
wolle das Projekt nun in die gewinnzone bringen. Das <strong>ist</strong> bitter,<br />
denn dann wird auch er bald abwesend sein.<br />
auf dem hof neben dem zweitgenutzten audi-Pavillon <strong>der</strong><br />
iaa («Vorsprung durch technik» wird zum schicksalsspruch <strong>der</strong><br />
literatur) übt die ultraorthodoxe mangajugend Pornoposen fürs<br />
multichanneling. in <strong>der</strong> wun<strong>der</strong>schönen island-halle saufen die<br />
nordlän<strong>der</strong>, bis die lesebrillen beschlagen. Dazwischen schnattert<br />
das heer <strong>der</strong> Pinguine über die Elektronisierung des lesens.<br />
nein, des Vertreibens, doch nicht <strong>der</strong> Zeit, son<strong>der</strong>n des Produkts.<br />
Das «Börsenblatt des Deutschen Buchhandels» wil<strong>der</strong>t im Werk<br />
von tomas tranströmer und klabustert den lyrischen opener:<br />
«Die mutlosigkeit unterbricht ihren lauf». Das bringt Zwischenwind<br />
fürs Weihnachtsgeschäft, in dem man noch einmal – das E-<br />
Book nimmt durch marktbesetzung mit sackgassentechnologie<br />
rapide zu, aber die massentendenz heisst: abwarten – ganz auf das<br />
P-Book setzen wird. Die Branche <strong>ist</strong> tot, es lebe die Branche. Es<br />
gibt einen neuen E-Book-literaturaward, und (das Erstaunen <strong>ist</strong><br />
<strong>der</strong> skandal) es haben sich sogar echte autoren daran beteiligt.<br />
Die formen haben den inhalt längst besiegt; die Büchse macht<br />
den fisch, die Dose <strong>ist</strong> teurer als <strong>der</strong> keks. Die Entwickler propagieren<br />
das «reading on demand»: Zahle nur für das, was du vom<br />
gekauften Buch wirklich gelesen hast. im breiten markt <strong>ist</strong> dieser<br />
anteil bekanntlich nicht sehr hoch; die nur gekauften, aber ungelesenen<br />
und die lediglich angelesenen Werke werden immer in<br />
22<br />
<strong>der</strong> Überzahl sein. Das muss die autoren <strong>der</strong> Zukunft nicht son<strong>der</strong>lich<br />
ärgern, denn sie sind in diesen modellen als Empfänger<br />
von gegenwerten ihres schaffens sowieso nicht mehr vorgesehen.<br />
messegeplau<strong>der</strong> am Würstchenstand 3: Die ghostwriter erleben<br />
beruflichen aufschwung und dank allen Bohlens und zu<br />
guttenbergs ein neues selbstverständnis; es gibt inzwischen eine<br />
Berufsvertretung. Würstchenstand 4 <strong>ist</strong> bezüglich skandalösitäten<br />
ergiebiger: Die deutschen Buchhändlerschulen hätten das<br />
fach literaturkunde abgeschafft, weil die grossen handelsketten<br />
verstärkt auf nonbook-sortimente setzen werden. lei<strong>der</strong> wahr,<br />
genauso wie es unwahr <strong>ist</strong>, dass migrosmitarbeiter demnächst literarisch<br />
ausgebildet werden, nur weil (lei<strong>der</strong> halbwahr) <strong>der</strong> gemüseverteiler<br />
demnächst den schweizer Buchhandel übernimmt.<br />
ach ja, richtig, es geht um die messe: alles in allem eher eine<br />
rückschau denn eine Zukunftsorientierung. nostalgisches Bad in<br />
<strong>der</strong> machtlosigkeit <strong>der</strong> inhaltserzeuger. Doch immer noch ein<br />
bunter, verlocken<strong>der</strong> supermarkt <strong>der</strong> teuren träume, in den man<br />
sich – wie schon seit über 500 Jahren – mit letztem zusammengekratztem<br />
taschengeld einzukaufen hofft. Doch mit Empathie,<br />
sucht und Bege<strong>ist</strong>erung, mit <strong>der</strong> lust zu lesen hat das ganze momentan<br />
nicht mehr viel zu tun. Ein restcharme <strong>ist</strong> geblieben,<br />
wenn die letzten Verlegerrocker sich einig sind, in ihren stiefeln<br />
sterben zu wollen.<br />
Ein tag später: «Der Berg liest». nicht <strong>der</strong> Pilatus, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong><br />
«Ölberg», das grösste erhaltene grün<strong>der</strong>zeitwohnviertel Europas<br />
in Wuppertal, wo die frühindustrialisierung das erste deutsche<br />
Proletariat bildete. letzteres feiert heuer als Präkariat in <strong>der</strong> abgewirtschafteten<br />
350'000-seelen-stadt hochkonjunktur. Doch die<br />
langen Jahre <strong>der</strong> korruption führen zu wi<strong>der</strong>ständigen Phänomenen:<br />
Eines von mittlerweile vielen <strong>ist</strong> dieser lesende Ölberg, ein<br />
tagesfestival mit 200 lesungen im Quartier, in fast 100 Wohnungen,<br />
läden, imbissbuden, in allen sprachen <strong>der</strong> Bewohner bis hin<br />
zum tamil, aus lieblingsbüchern, arztromanen, selbstgeschriebenem,<br />
klassischem von den «Brü<strong>der</strong>n grimm» über richard<br />
Brautigan bis, spät abends, zur «marquise von o.». social media<br />
paradox: man trinkt auf den strassen herum und berichtet einan<strong>der</strong><br />
gerade gehörtes, Bücher-tauschk<strong>ist</strong>en überall, applaus aus<br />
vielen fenstern, kin<strong>der</strong>horden ziehen marodierend zum nächsten<br />
Jandl-Vortrag; kein touchscreen, kein Prospekt, keinerlei Prominenz,<br />
nur gelebter anspruch auf gemeinsam initiiertes kulturerlebnis<br />
inmitten des stigmas. lustvoll, lehrreich, barrierefrei.<br />
Eine schocktherapie für den klagebedürftigen Berufspessim<strong>ist</strong>en<br />
neuester frankfurter schule, dem hier dann doch noch, unerwartet,<br />
eine durchaus prachtvolle messe gelesen wird!