30.01.2013 Aufrufe

der BerG ist kulisse - 041 Kulturmagazin

der BerG ist kulisse - 041 Kulturmagazin

der BerG ist kulisse - 041 Kulturmagazin

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

schweizer literatur:<br />

Von <strong>der</strong> protest- zur eventkultur<br />

seit mitte <strong>der</strong> 90er-Jahre stehen sich in <strong>der</strong> schweizer literatur,<br />

etwas überspitzt formuliert, drei grundsätzliche Positionen gegenüber:<br />

eine generation, die literatur immer noch politisch,<br />

gesellschaftskritisch, als «moralische gegenmacht zur herrschenden<br />

gesellschaft» versteht. Zu ihr gehören autoren wie etwa Peter<br />

Bichsel, adolf muschg, Urs Widmer, franz hohler, hugo loetscher,<br />

franz Böni, hansjörg schertenleib, Jörg steiner, Jürg lä<strong>der</strong>ach,<br />

Chr<strong>ist</strong>oph geiser, E.Y. meyer, Paul nizon, reto hänny,<br />

silvio Blatter, franz Böni, Urs faes, Erica Pedretti, mariella mehr,<br />

Eveline hasler und Jürg fe<strong>der</strong>spiel, <strong>der</strong> 2007 in Basel freiwillig<br />

aus dem leben schied. Es waren und sind fast selbstredend eher<br />

ältere autoren, die schon in den 60er- und 70er-Jahren debütiert<br />

haben.<br />

Daneben findet sich eine mittlere generation, die dieses gesellschaftskritische<br />

muster aufgeweicht hat und themen wie<br />

kindheit, alter, abschied, tod und Beziehungsdebakel ins Zentrum<br />

rückt. Dazu rechne ich etwa Urs faes, thomas hürlimann,<br />

klaus merz, tim krohn, Peter stamm, Peter Weber, Perikles monioudis,<br />

ruth schweikert, helen meier, gertrud leutenegger,<br />

margrit schriber, Eleonore frey, milena moser, andrea simmen,<br />

nicole müller, monica Cantieni, hanna Johansen, rolf lappert,<br />

<strong>der</strong> mit seinem roman «nach hause schwimmen» als Erster den<br />

2008 neu geschaffenen schweizer Buchpreis gewonnen und es<br />

2009 immerhin auf die shortl<strong>ist</strong> des Deutschen Buchpreises gebracht<br />

hat. Es dürfte übrigens kein Zufall sein, dass es sich hier<br />

mehrheitlich um frauen handelt, haben wir es doch seit etwa<br />

1970, wie bereits gesagt, in <strong>der</strong> schweizer literatur recht eigentlich<br />

mit einem aufbruch <strong>der</strong> frauen zu tun. Das mag aus literaturgeschichtlicher<br />

sicht mit <strong>der</strong> individualisierung <strong>der</strong> literatur,<br />

mit <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>entdeckung des ich im rahmen <strong>der</strong> «neuen subjektivität»<br />

und damit verbunden mit <strong>der</strong> erneuten Betonung des<br />

Biografischen und autobiografischen zusammenhängen.<br />

literarische fliegengewichte<br />

schliesslich die «junge» generation, die sich, um es auf einen<br />

einfachen nenner zu bringen, medien- und marktgerecht verhält,<br />

sich gerne selbst inszeniert und auch – das scheint mir wichtig zu<br />

sein – gesellschaftlich wie<strong>der</strong> stärker integriert <strong>ist</strong>. Zu ihr zähle<br />

ich u. a. einen martin suter, <strong>der</strong> nicht umsonst Direktor einer<br />

Werbeagentur war, einen Pedro lenz, einen hansjörg schnei<strong>der</strong>,<br />

den als Drehbuchautor bekannt gewordenen Charles lewinsky,<br />

einen alex Capus, <strong>der</strong> nebenbei bekanntlich Präsident <strong>der</strong> sozialdemokratischen<br />

Partei oltens <strong>ist</strong>, einen silvio huon<strong>der</strong>, eine simone<br />

meier, seit 1998 kulturredaktorin des «tages-anzeigers»,<br />

einen gion mathias Cavelti, einen Ulrich knellwolf und last, but<br />

not least eine Zöe Jenny, die heute freilich englisch schreibt, weil<br />

sich Englisch zum Erzählen besser eigne als Deutsch, wie sie an<br />

den diesjährigen solothurner literaturtagen verlauten liess. Es<br />

sind, um es ohne Umschweife zu sagen, «literarische fliegenge-<br />

33<br />

WORT<br />

wichte». ihre texte sind, vielleicht mit ausnahmen wie Charles<br />

lewinsky mit «melnitz» und seinem neuesten roman «gerron»,<br />

in <strong>der</strong> regel unpolitisch und nicht immer, aber häufig auf Unterhaltung<br />

ausgerichtet, als leichte Zwischenmahlzeiten gedacht. sie<br />

treffen allerdings auf <strong>der</strong> gegenseite auch auf ein verän<strong>der</strong>tes<br />

Verhalten <strong>der</strong> medien und des leserpublikums. Erwartet wird<br />

nicht <strong>der</strong> herkömmliche Dichter, erwartet wird <strong>der</strong> shootingstar,<br />

<strong>der</strong>, wie etwa eine Zoë Jenny, eine simone meier, ein linus<br />

reichlin, ein alex Capus, um nur vier Beispiele zu nennen, die<br />

strategie des Ego-marketings perfekt beherrscht. Der letztere, also<br />

alex Capus, auch wenn sein name für die doch etwas allzu<br />

zart geratene liebesgeschichte «léon und louise», die vom uralten,<br />

über gottfried kellers «grünen heinrich» bis zu homers<br />

«odyssee» zurückreichenden motiv vom mann zwischen zwei<br />

frauen lebt, auf <strong>der</strong> longl<strong>ist</strong> des diesjährigen Deutschen Buchpreises<br />

stand. Erhalten wird er den Preis aber nicht, wie wir inzwischen<br />

aus <strong>der</strong> Presse erfahren haben. am Vorabend <strong>der</strong><br />

frankfurter Buchmesse entgegennehmen darf ihn vielmehr die<br />

Österreicherin marlene streeruwitz für ihren 2011 bei fischer erschienenen<br />

roman «Die schmerzmacherin».<br />

Und wie reagieren die medien? ganz einfach: sie bedienen<br />

die neugierde <strong>der</strong> leser – ein beinahe erotisches Phänomen – mit<br />

immer neuen Events. Das Publikum seinerseits möchte nicht unbedingt<br />

lesen, son<strong>der</strong>n dabei sein. lesen will es dann freilich<br />

schon, um zu überprüfen, ob sich das Dabeisein gelohnt hat. Das<br />

wie<strong>der</strong>um kommt dem Verkauf <strong>der</strong> Bücher zugute. moralisch zu<br />

werten, liebe hörerinnen und hörer, <strong>ist</strong> das alles nicht. Bedenklich<br />

wird das ganze aber, wenn sich die schere zwischen dem<br />

mediengetöse um ein Buch und dem, was das Buch selber zu bieten<br />

hat, immer weiter öffnet, wenn das gesamte feuilleton dieser<br />

hype- und Eventliteratur wie einer Droge zu verfallen scheint,<br />

wenn ihre autorinnen und autoren zum Ereignis werden, das<br />

die medien vor sich hertreibt, wie das sonst nur noch die finanzkrise<br />

vermag. Und das trifft gegenwärtig nicht nur auf eine autorin<br />

wie Charlotte roche mit ihrem neuen, von trauer, tod und<br />

sex triefenden Buch «schossgebete» zu; das <strong>ist</strong> gerade auch in <strong>der</strong><br />

schweizer literatur seit Zoë Jennys «Blütenstaubzimmer», simone<br />

meiers «mein lieb, mein lieb, mein leben», das allzu sehr an<br />

die klischees <strong>der</strong> schick-banalen fräuleinwun<strong>der</strong>-literatur erinnert,<br />

und martin suters kriminal- und liebesromanen, die von<br />

<strong>der</strong> kritik nicht ganz zu Unrecht das Prädikat «schema-literatur»<br />

erhalten haben, immer öfter <strong>der</strong> fall.<br />

Mario Andreotti<br />

Auszug aus einem Vortrag über Aspekte und Tendenzen <strong>der</strong> Schweizer Literatur seit<br />

1945, den <strong>der</strong> Autor an <strong>der</strong> Universität Freiburg (CH) gehalten hat. Sein bekanntestes<br />

Werk: Die Struktur <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Literatur. 4. Auflage. Haupt Verlag, Bern/<br />

Stuttgart/Wien 2009. 488 Seiten. Ca. Fr. 27.90

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!