27.02.2013 Aufrufe

Adam Scharrer – Vaterlandslose Gesellen (1930) - linke-buecher.net

Adam Scharrer – Vaterlandslose Gesellen (1930) - linke-buecher.net

Adam Scharrer – Vaterlandslose Gesellen (1930) - linke-buecher.net

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Die Fahrgäste jedoch sind erzürnt. Eine Dame im eleganten Pelz entrüstet sich: „Was ist denn hier<br />

los?" Sie stellt ihren zitternden Pintscher beiseite, schaut empört durch ihre Guckschere und fährt fort:<br />

„Fahren Sie los! Sie sehen doch, die Leute sind betrunken!" Einige steigen aus, gehen schweigend,<br />

oder verstohlen lächelnd, fort. Andere zucken die Schultern, debattieren heftig, wie: „Schöne<br />

Zustände! Sind wir denn hier in Russland?"<br />

Der Fahrer will in die Massen fahren. — Da springen sie auf den Wagen. Er zückt die Kurbel: „Der<br />

erste, der herkommt!"<br />

----------Da wird er schon von hinten gepackt und über die<br />

Vorderseite der Plattform gelegt. Seine großen Filzstiefel kommen hinten hoch wie die Füße eines<br />

tauchenden Enterichs. Sie bringen ihn wieder ins Gleichgewicht und halten ihn fest.<br />

Das Weib, das er mit der Kurbel bedrohte, reißt einem Kriegskrüppel den Stock fort und beginnt:<br />

„Der—er—ste—der—her—kommt!" Haut ihm mit beiden Händen bei jeder Silbe eines über den<br />

Allerwertesten und sagt dann: „Lasst ihn los!" Dann zu dem Zappelnden: „Verdufte, sonst bekommst<br />

du noch eine Ladung."<br />

Ein Gesicht taucht aus der Versenkung auf, aus dem die Augen stieren, als ginge die Welt unter. Doch<br />

er besinnt sich rasch, läuft mit seinen großen Stiefeln eilig über die Straße. Die Fahrgäste<br />

verschwinden gleichfalls. Keinem geschieht etwas. Der Zug geht weiter an dem unbeschädigten<br />

Wagen vorbei. Da taucht schon ein zweiter Wagen auf. Fäuste heben sich wie Haltesignale — doch<br />

umsonst. Aber er kann nicht auf den stehengebliebenen Wagen auffahren — das ist sein Verhängnis.<br />

Eine Wut fährt durch die Menge. Sie stürzen den Wagen um. Einige „unerschrockene" Herren<br />

protestieren: „Friedliche Bürger überfallen!" — „Kein Recht, den Verkehr zu stören." — „Die Zeit<br />

nicht gestohlen." „Wir auch nicht! — Raus!" „Wer gibt Ihnen dazu das Recht?"<br />

„Was heißt hier Recht! Wir haben genug gehungert und geschuftet."<br />

„Die Blauen!"<br />

Wie ein Alarmruf pflanzt sich der Schrei fort. Von unten her knallen scharfe Schüsse. Dann tauchen<br />

die Uniformen einer im Laufschritt vorgehenden Patrouille auf, die über die ganze Straße und über die<br />

Fußsteige kommen. Sie schießen scharf über die lange gerade Chaussee. Fenster fliegen zu. Alles verschwindet<br />

in den Häusern.<br />

Ich stehe mit noch einem Kollegen in einem Flur, in den auch ein Trupp Arbeiterinnen geflüchtet ist.<br />

Die schießenden Vaterlandsverteidiger rennen vorüber wie zum Sturm.<br />

Keiner weiß, was draußen vorgeht. Hie und da dringt ein Schrei zu uns. Schatten huschen hin und her.<br />

Man sieht es durch die Glasfassung in der Tür. Oben im Hause werden die Türen verschlossen.<br />

Die Arbeiterinnen stehen eine halbe Treppe höher. Wir gehen ebenfalls die halbe Treppe hinauf.<br />

„Wir müssen jetzt ganz ruhig sein", bemerke ich.<br />

„Wenn Sie uns von draußen gewahr werden, kommen sie, und wir sind wehrlos."<br />

„Wir haben doch gar nichts gemacht ?"<br />

„Haltet die Schnauze, sonst rufen sie noch von oben nach ihnen. Denkt ihr, hier wohnen lauter<br />

Arbeiter?" sagt mein Kollege. Ich suche im Flüsterton zu beschwichtigen, habe das Gefühl, dass die<br />

Straßen „gesäubert" werden. Ich weiß, wie sie hausen dem „Feind" gegenüber.<br />

„Hast wohl die Hosen schon voll ?" bemerkt eine Unverbesserliche.<br />

Nun geht das Kichern los.<br />

„Blödsinnige Gesellschaft!" schimpft mein Kollege, muss aber selbst lachen.<br />

Da wird die Tür aufgerissen, ein halbes Dutzend mit gezückten Säbeln stürmt herein, die Treppe hoch.<br />

Ein einziger Schrei ist die Antwort der nach oben entfliehenden Arbeiterinnen.<br />

Als ich um mich sehe, meine Umgebung wieder erkenne, liege ich im Hausflur, auf den Steinfliesen.<br />

Ein wimmerndes Au—au—au—a — Auauau — hilft mir wieder zu begreifen, was ist. Ich liege links<br />

von der Treppe, an der Kellertür. Als ich mich auf die Hand stützen, aufstehen will, wirft mich ein<br />

Schmerz in der Schulter wieder hin, auch die Finger meiner Hand bluten durch die Lederhandschuhe.<br />

Ich entsinne mich, dass ich ihnen entgegenspringen wollte, als sie hereinstürmten. Wahrscheinlich bin<br />

ich nach dem Schlag mit dem Kolben auf die Schulter über das Geländer getorkelt.<br />

Ich horche. Oben ist alles ruhig. Dann höre ich wieder das Stöhnen. Ich versuche mich von neuem zu<br />

erheben und komme auch auf die Füße. Der Handschuh klebt an der blutenden Hand. Das Kreuz<br />

scheint im Knochengerüst unversehrt zu sein. Ich ziehe mich am Geländer empor, sehe nach der<br />

andern Seite. Da liegt eine Arbeiterin, ohne Kopfbedeckung, Gesicht und Mund stark geschwollen,<br />

ganz blau, blutend.<br />

Ich schüttle sie an der Hand. Sie scheint mich zu erkennen, reicht mir auch die andere Hand und stützt<br />

102

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!