Adam Scharrer – Vaterlandslose Gesellen (1930) - linke-buecher.net
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Die Fahrgäste jedoch sind erzürnt. Eine Dame im eleganten Pelz entrüstet sich: „Was ist denn hier<br />
los?" Sie stellt ihren zitternden Pintscher beiseite, schaut empört durch ihre Guckschere und fährt fort:<br />
„Fahren Sie los! Sie sehen doch, die Leute sind betrunken!" Einige steigen aus, gehen schweigend,<br />
oder verstohlen lächelnd, fort. Andere zucken die Schultern, debattieren heftig, wie: „Schöne<br />
Zustände! Sind wir denn hier in Russland?"<br />
Der Fahrer will in die Massen fahren. — Da springen sie auf den Wagen. Er zückt die Kurbel: „Der<br />
erste, der herkommt!"<br />
----------Da wird er schon von hinten gepackt und über die<br />
Vorderseite der Plattform gelegt. Seine großen Filzstiefel kommen hinten hoch wie die Füße eines<br />
tauchenden Enterichs. Sie bringen ihn wieder ins Gleichgewicht und halten ihn fest.<br />
Das Weib, das er mit der Kurbel bedrohte, reißt einem Kriegskrüppel den Stock fort und beginnt:<br />
„Der—er—ste—der—her—kommt!" Haut ihm mit beiden Händen bei jeder Silbe eines über den<br />
Allerwertesten und sagt dann: „Lasst ihn los!" Dann zu dem Zappelnden: „Verdufte, sonst bekommst<br />
du noch eine Ladung."<br />
Ein Gesicht taucht aus der Versenkung auf, aus dem die Augen stieren, als ginge die Welt unter. Doch<br />
er besinnt sich rasch, läuft mit seinen großen Stiefeln eilig über die Straße. Die Fahrgäste<br />
verschwinden gleichfalls. Keinem geschieht etwas. Der Zug geht weiter an dem unbeschädigten<br />
Wagen vorbei. Da taucht schon ein zweiter Wagen auf. Fäuste heben sich wie Haltesignale — doch<br />
umsonst. Aber er kann nicht auf den stehengebliebenen Wagen auffahren — das ist sein Verhängnis.<br />
Eine Wut fährt durch die Menge. Sie stürzen den Wagen um. Einige „unerschrockene" Herren<br />
protestieren: „Friedliche Bürger überfallen!" — „Kein Recht, den Verkehr zu stören." — „Die Zeit<br />
nicht gestohlen." „Wir auch nicht! — Raus!" „Wer gibt Ihnen dazu das Recht?"<br />
„Was heißt hier Recht! Wir haben genug gehungert und geschuftet."<br />
„Die Blauen!"<br />
Wie ein Alarmruf pflanzt sich der Schrei fort. Von unten her knallen scharfe Schüsse. Dann tauchen<br />
die Uniformen einer im Laufschritt vorgehenden Patrouille auf, die über die ganze Straße und über die<br />
Fußsteige kommen. Sie schießen scharf über die lange gerade Chaussee. Fenster fliegen zu. Alles verschwindet<br />
in den Häusern.<br />
Ich stehe mit noch einem Kollegen in einem Flur, in den auch ein Trupp Arbeiterinnen geflüchtet ist.<br />
Die schießenden Vaterlandsverteidiger rennen vorüber wie zum Sturm.<br />
Keiner weiß, was draußen vorgeht. Hie und da dringt ein Schrei zu uns. Schatten huschen hin und her.<br />
Man sieht es durch die Glasfassung in der Tür. Oben im Hause werden die Türen verschlossen.<br />
Die Arbeiterinnen stehen eine halbe Treppe höher. Wir gehen ebenfalls die halbe Treppe hinauf.<br />
„Wir müssen jetzt ganz ruhig sein", bemerke ich.<br />
„Wenn Sie uns von draußen gewahr werden, kommen sie, und wir sind wehrlos."<br />
„Wir haben doch gar nichts gemacht ?"<br />
„Haltet die Schnauze, sonst rufen sie noch von oben nach ihnen. Denkt ihr, hier wohnen lauter<br />
Arbeiter?" sagt mein Kollege. Ich suche im Flüsterton zu beschwichtigen, habe das Gefühl, dass die<br />
Straßen „gesäubert" werden. Ich weiß, wie sie hausen dem „Feind" gegenüber.<br />
„Hast wohl die Hosen schon voll ?" bemerkt eine Unverbesserliche.<br />
Nun geht das Kichern los.<br />
„Blödsinnige Gesellschaft!" schimpft mein Kollege, muss aber selbst lachen.<br />
Da wird die Tür aufgerissen, ein halbes Dutzend mit gezückten Säbeln stürmt herein, die Treppe hoch.<br />
Ein einziger Schrei ist die Antwort der nach oben entfliehenden Arbeiterinnen.<br />
Als ich um mich sehe, meine Umgebung wieder erkenne, liege ich im Hausflur, auf den Steinfliesen.<br />
Ein wimmerndes Au—au—au—a — Auauau — hilft mir wieder zu begreifen, was ist. Ich liege links<br />
von der Treppe, an der Kellertür. Als ich mich auf die Hand stützen, aufstehen will, wirft mich ein<br />
Schmerz in der Schulter wieder hin, auch die Finger meiner Hand bluten durch die Lederhandschuhe.<br />
Ich entsinne mich, dass ich ihnen entgegenspringen wollte, als sie hereinstürmten. Wahrscheinlich bin<br />
ich nach dem Schlag mit dem Kolben auf die Schulter über das Geländer getorkelt.<br />
Ich horche. Oben ist alles ruhig. Dann höre ich wieder das Stöhnen. Ich versuche mich von neuem zu<br />
erheben und komme auch auf die Füße. Der Handschuh klebt an der blutenden Hand. Das Kreuz<br />
scheint im Knochengerüst unversehrt zu sein. Ich ziehe mich am Geländer empor, sehe nach der<br />
andern Seite. Da liegt eine Arbeiterin, ohne Kopfbedeckung, Gesicht und Mund stark geschwollen,<br />
ganz blau, blutend.<br />
Ich schüttle sie an der Hand. Sie scheint mich zu erkennen, reicht mir auch die andere Hand und stützt<br />
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