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Adam Scharrer – Vaterlandslose Gesellen (1930) - linke-buecher.net

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ausgerissen.<br />

Jede Differenz wird sorgfältig mit Präzisionsinstrumenten gemessen, gebucht — und dann kommen<br />

sie, in Ermangelung von Ersatz, oft wieder in Stellung. Wir gehen von Batterie zu Batterie, überall<br />

dasselbe: zwei Mann an einem Geschütz.<br />

Man kann oft den Fünfundzwanzig jährigen nicht vom Landsturm unterscheiden. Die Gesichter<br />

stecken in wildwuchernden Bärten.<br />

Wir sind keine gern gesehenen Gäste. Wenn einer nicht wiederkommt, oder gar ein paar, dann kommt<br />

manchmal auf den einzelnen ein Häppchen mehr beim Empfang. Aber wir sind immer gesunder<br />

Zuwachs, immer überetatsmäßig, wo die armen Teufel schon so nicht wissen, wie sie ihren Magen<br />

beruhigen sollen.<br />

Sie pflegen und ziehen allerlei Vögel, Spatzen, Stare usw., nur um einmal „Schlachtfest" machen zu<br />

können. Katzen gibt es auch da nicht mehr, wo früher einige Exemplare als letzte Erinnerung an ein<br />

anderes Leben zurückgeblieben sind oder irgendwo hergeholt wurden.<br />

Vor einigen Tagen haben sie in einer von uns besuchten Batterie eine im Kochgeschirr geschmort. Erst<br />

die eine Hälfte — man muss auch an den andern Tag denken. Aber sie schmeckte — in ihrem eigenen<br />

Saft, mit Zwiebeln und Gewürz geschmort — so gut, dass man beschloss, die andere Hälfte auch noch<br />

vorzunehmen. Das war ein Fest!<br />

Alle überlegen, wie in den eintönigen Fraß einmal eine Abwechslung zu bringen ist. Ob Maulwürfe<br />

essbar sind? Es lohnt sich doch nicht, ist doch nichts dran, sagt einer. Ein anderer meint, dass man es<br />

doch einmal mit Ratten versuchen soll, die gebe es in Hülle und Fülle, man kann sich gar nicht vor<br />

ihnen retten. So mit Zwiebeln und Pfeffer und so—man kann doch nicht wissen.<br />

Noch ist es nicht so weit, aber Gott, wir sind doch Helden, müssen irgendwie durchhalten. Mit den<br />

Ratten würden uns auch unsere Toten noch nützen können. Letzten Endes fressen Aale doch auch<br />

Menschenfleisch. So denken sie, wenn sie von ihrer schweren Arbeit heimkehren und nichts vorfinden<br />

als schlechtes Brot und stinkende Marmelade.<br />

Sie würgen einen Kanten hinunter zu ihrem „schwarzen Kaffee" und gehen hinaus. Man kennt jede<br />

Wurzel, jeden Stein, jeden einzelnen Baum. Der Geist ist rettungslos gefesselt — das hält keiner aus,<br />

es sei denn, er ist schon lebendig tot, wie einige von der Munitionskolonne, die immer größere<br />

Mengen von dem „Rum" trinken; im Dusel ihre Balken schleppen, schlafen, essen. Sie sind vertiert,<br />

zerbrochen.<br />

Andere machen aus Granatsplittern Briefbeschwerer, Dolche, wer weiß, was alles. Andere lassen von<br />

Kupferringen Fingerringe, Broschen, Kunstwerke aus jungen Birkenstämmen entstehen. Andere legen<br />

den Löffel aus dem Mund und sitzen jede freie Minute beim Skat. Die Photographen photographieren<br />

die verwesenden Russen in den Drahtverhauen, das sind die „Gebildeten", die Offiziere und<br />

Einjährigen, die teure Apparate hier haben. Halbverweste Menschen im Bild als Kriegsandenken,<br />

deren Knochengerüste wie Vogelscheuchen in den spanischen Reitern hängen — ist doch mindestens<br />

originell!<br />

Es ist so schwer, hier Abwechslung zu finden. Man weiß, dass eine Pferdelaus auf eine Menschenlaus<br />

losgeht und amüsiert sich bei diesem Ringkampf. Wenn alles nicht mehr befriedigt, statten sie sich<br />

gegenseitig Besuche ab. Machen sich Kragen und Vorhemd aus Papier, drehen den Rock ihres<br />

Ehrenkleides um und empfangen „Gäste". Sie leben sich in das Theater hinein, reiten auf ihrer<br />

Phantasie in die Heimat, greifen sich den Schnapsballon in der Ecke — an nichts ist Überfluss, außer<br />

an Schnaps — und saufen, saufen!! Saufen heißen Rum, weil kalter Rum in heißem Wasser eine zu<br />

schwache Mischung ergibt, wenn sie heiß bleiben soll. Die „Kapelle" tritt in Funktion.<br />

Alte Gießkannen, einige Töpfe, Schlagzeug von Topfdeckeln. Über einige Bretter sind Telefondrähte<br />

gespannt, das sind die Geigen. Die Trommelstöcke wirbeln in den Gießkannen, die Paukenschlegel<br />

hauen auf die Töpfe, die Geigen quietschen, die Topfdeckel fallen krächzend ein. Auf einer Tonne<br />

wird noch getrommelt. Einer sucht den andern zu<br />

überschreien: .<br />

„Wenn das so weitergeht<br />

im nächsten Jahr, ham wir 's Delirium, Hallelujah!"<br />

Manchmal bringt einer auch seine „Braut" mit nach Hause. Immer onanieren ist zu eintönig. Und<br />

immer noch einen Becher heißen Rum.<br />

Ich sitze am Ofen, schaue in die Glut, Minute auf Minute: der Wahnsinn grinst aus den verzerrten,<br />

kindischen, vertrottelten Gesichtern. Das Gehirn droht zu platzen. Ich greife nach einem Becher und<br />

trinke, trinke, saufe, bis zur Bewusstlosigkeit.<br />

70

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