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Adam Scharrer – Vaterlandslose Gesellen (1930) - linke-buecher.net

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mich einfinde. Der Zettel ist Legitimation dem Wirt gegenüber. In einer alten Küche erwarte ich ihn.<br />

Nach ihm kommen noch drei, zwei Genossen und eine Genossin.<br />

Der Brief von Klaus ist der erste Bericht, den sie erhalten. Genovsky, der junge Dreher, liest ihn vor.<br />

Ich gebe Bericht über die revolutionäre Bewegung in Deutschland. Die vierzigste Milliarde<br />

Kriegsanleihe ist bewilligt, aber langsam zerrinnt der Nebel, der Hunger regiert. Die<br />

Sozialdemokratie ist gespalten. Für Kommissbrot kauft man auch in Deutschland schon Liebe wie in<br />

Belgien und Polen. Das besetzte Gebiet — das ist die Klasse des Proletariats in allen Ländern. Der<br />

Feind steht im eigenen Land!<br />

Sie hören mich ruhig an und haben Vertrauen zu mir.<br />

„Warum macht ihr es den deutschen Genossen so schwer, euch zu finden ?" erkundige ich mich dann.<br />

Da sagt Genovsky: „Genosse, die deutschen Soldaten haben gegen das polnische Proletariat schwer<br />

gesündigt. Sie haben geplündert und geräubert und nicht danach gefragt, ob sie ihre Feinde oder ihre<br />

Klassengenossen, Proletarier, vor sich haben. Die Erbitterung unter den Arbeitern ist sehr groß. Wir<br />

werden es schwer haben, durch die Schuld der deutschen Arbeiter, den polnischen Nationalismus<br />

erfolgreich zu bekämpfen."<br />

Ein seltsames Gefühl beschleicht mich. Ich selbst stehe als Lump vor ihnen; August Wendt hatte<br />

schon recht!<br />

Ich erzähle lang und breit meine eigene Geschichte. Sie hören mich interessiert an und stimmen zu.<br />

„Genau wie wir", bestätigt Genovsky. „Auch wir müssen ja Kriegsmaterial, noch dazu für die<br />

deutsche Heeresleitung, herstellen."<br />

„Dann könnt ihr die deutschen Genossen doch auch nicht verdammen!"<br />

„Tun wir auch nicht, Genosse, aber wir müssen vorsichtig sein. Alle Spione und Spitzel versuchen,<br />

uns unter der Maske des ,Sozialisten' zu fangen. Die polnischen Arbeiter haben schlechte Erfahrungen<br />

hinter sich. Wir sind ja vollends vogelfrei. Viele von uns sind schon erschossen oder deportiert infolge<br />

Denunziation feldgrauer Spitzel."<br />

Die Uhr rückt auf elf. Ich muss gehen. Wir reichen uns die Hände, die Genossin weint. Sie ist nicht<br />

mehr jung. Ihr Haarschopf, der hinter dem Kopftuch sichtbar ist, ist fast weiß.<br />

Sie gehen dann, erst die beiden andern, älteren Arbeiter, dann die Genossin. Genovsky und ich sind<br />

die letzten.<br />

„Warum weinte die Genossin?" frage ich.<br />

„Sie hat viel durchgemacht", sagt Genovsky kurz und bitter,<br />

„sie ist aus Deutsch-Polen, wohnt hier bei ihrer alten Mutter. Ihr Mann wurde vom deutschen Heere<br />

eingezogen und fiel in Belgien. Ihren Sohn haben die Deutschen in Warschau standrechtlich<br />

erschossen."<br />

„Warum ?"<br />

„Er beteiligte sich an einem Streik, als die Deutschen Warschau besetzt hatten und die Löhne der<br />

Arbeiter einfach kürzten. Er war erst siebzehn Jahre alt."<br />

Da geht die Tür noch mal auf. Einer der Genossen kommt herein und sagt etwas in polnischer Sprache.<br />

„Los!" sagt Genovsky darauf, „die Luft ist rein. Gute Nacht, Genosse Betzoldt!"<br />

„Wann fährst du ?"<br />

„Nächste Woche."<br />

„Wenn wir nicht mehr zusammenkommen können — es ist vielleicht nicht ratsam —, grüße die<br />

Genossen in Deutschland!"<br />

XVIII<br />

Von sechzig Mann aus unserm Kursus fuhr die Hälfte zurück, ohne Decken, ohne Mäntel, ohne<br />

Schnürschuhe. Sie melden, dass ihnen die Sachen gestohlen sind. Einige haben sich eine<br />

Geschlechtskrankheit zugelegt für einen Teil des Geldes, das die Sachen einbrachten. Die Drohung mit<br />

Strafe zieht nicht mehr. Sie kalkulieren schon genau so wie Gustav: von heute auf morgen.<br />

Man spricht auch viel von Liebknecht und seiner Rede. „Der Mann ist irrsinnig, komplett irrsinnig",<br />

sagt Unteroffizier Fingerhut, „dass sie den nicht wegbringen, ein Skandal ist das."<br />

„Wieso irrsinnig?" frage ich. Wir liegen in einem Unterstand mit Fingerhut zusammen. Es ist schon<br />

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