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Adam Scharrer – Vaterlandslose Gesellen (1930) - linke-buecher.net

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„Wenn sie die Beine nicht vor ihm breit machen", setzt Gertrud hinzu und schielt wütend zu Janke<br />

hinüber. Die andern lachen beipflichtend und lauernd. Man darf nicht zuviel sagen, weiß nicht, was<br />

mit dem „Neuen" los ist.<br />

Ich höre und schweige. Werde hier nicht auf Rosen gebettet sein; wer weiß, wie lange die Episode<br />

dauert ? Aber ich möchte irgend etwas sagen und frage: „Wieviel verdient ihr hier?"<br />

„Fünfzig Pfennig, wenn's hoch kommt."<br />

Ich beobachte sie bei ihrem Frühstück. Die eine legte sich fünf Minuten lang immer eine winzige<br />

Scheibe Radieschen auf einen winzigen Bissen Brot. Die andere hat irgend etwas Grünes in einer<br />

Tasse, wie Spinat. Ihr Brot für die Woche ist schon aufgegessen. Ich gebe ihr eine halbe Schnitte ab,<br />

sie nimmt, und bemüht sich krampfhaft, die Gier zu unterdrücken. Die dritte hat Tomaten auf dünnen,<br />

schwarzen, klitschigen Schnitten. Die zwei Schnitten mit den Tomatenscheiben, die mehr Suppe als<br />

Scheiben sind, kann man zusammengedrückt in einer hohlen Hand verbergen. Bertha hat in einer<br />

Tasse weißen Käse und nimmt immer eine Messerspitze voll zu ihren Brotstückchen. Frau Zinke isst<br />

nichts. Sie kann sich nicht „einrichten". Kommt vom Norden und hat ihre Schnitten schon<br />

aufgegessen. Sie muss morgens erst ihre beiden Kinder zur Schule fertig machen, und dann der lange<br />

Weg mit der Bahn und zu Fuß. Da verliert man die Selbstbeherrschung. Sie nimmt dankbar die andere<br />

Hälfte der einen Schnitte und sagt: „Nicht doch, dann haben Sie doch nichts zu Mittag, Herr Betzoldt!"<br />

Sie selbst hat natürlich zu Mittag auch nichts.<br />

Ich habe nichts zu trinken und nehme von dem „Kaffee", den sie mir anbieten. Eine heiße,<br />

geschmacklose Brühe ohne Milch, Zucker und erst recht, ohne Kaffee. „Kotzen Sie aber nicht nach<br />

der Plärre", meint die Bartsch, schon zutraulicher. Die kleine Erna ist darüber erbost und schimpft:<br />

„Du bist unausstehlich, Gertrud, was soll Herr Betzoldt von uns denken ?"<br />

Langsam gehen sie nach der Pause an die Arbeit. Aus den Toiletten kommen sie zu Dutzenden zurück<br />

— sie haben dort eine Kriegszigarette geraucht, das stillt zwar den Hunger nicht, aber es betäubt.<br />

Meister Horn schielt kritisch vom Gang her; ich weiß nicht, was er denkt, ahne aber die<br />

Zusammenhänge: Lass dich nur erst mal mit den Weibern ein, dann sind wir die längste Zeit Freunde<br />

gewesen!<br />

Sophie wird auf den „ersten Eindruck" gespannt sein.<br />

„Hals- und Beinbruch, Hans!" sagte sie, als ich mit meinen Stullen ging, nach langer Zeit wieder auf<br />

Arbeit. So ganz neu war uns beiden das. Sie wird mich am Abend unruhig erwarten. Wird in banger<br />

Sorge fragen: „Na, Lütting, wie war's ?"Möchte so gerne hören: „Ist ganz fein!" Sie weiß, dass ich in<br />

meinem Beruf kein Stümper bin, hat deswegen keine Sorge; aber sie kann ja schon ein Lied singen<br />

von meinem sonstigen „Pech".<br />

Was soll ich ihr berichten ? Ich möchte ihr so gerne sagen: „Ist ein Kinderspiel, die Arbeit; hab schon<br />

ganz etwas anderes gemacht, Sophl, brauchst dir keine Sorgen machen." Oh, wie gönne ich ihrem<br />

geschundenen und geschändeten Körper, ihren glanzlos gewordenen Augen die Ruhe, die Erholung,<br />

den Schlaf ohne Sorgen.<br />

Aber dein Hans, Sophie, wird nie ein „ordentlicher Mensch" werden. Die Betriebe sind gesäubert von<br />

„Hoch-" und „Landesverrätern". Ein raffiniertes System gegenseitiger Selbstzerfleischung, von der<br />

Angst vor dem Heldentum in Bewegung gehalten, hält die hungernden Sklaven nieder. Ich höre die<br />

Verzweiflungsschreie in ihren harmlosen Worten, höre den<br />

Hohn der Antreiber. Ein guter Patriot zu sein, wie billig wäre das. Ich bin es nicht und — will auch<br />

keiner sein!<br />

Gleich nach dem Frühstück rückte Erna ein paarmal hintereinander ihre Bank aus und ging hinaus.<br />

Dann brachten sie sie herangeschleppt, trugen sie auf einer Bahre zum Sanitäter. Sie wand sich in<br />

Krämpfen, hatte ihren Spinat ausgebrochen. Man brachte sie zum Arzt und dann ins Krankenhaus.<br />

Dort stellte man Vergiftungserscheinungen fest und untersuchte ihr Töpfchen, in dem noch ein Rest<br />

für die Mittagspause war. Es waren Rhabarberblätter, die Mutter durch den Wolf gedreht hatte.<br />

Dass ihr Mädel beinahe gestorben wäre, hat die Mutter sehr erschreckt. Ist also doch nichts mit dem<br />

schönen „Ersatz". Der Arzt sagt ungläubig: „Frau, wie können Sie bloß so etwas machen ? Sie als<br />

erfahrene Hausfrau müssen doch wissen, was genießbar ist und was nicht!"<br />

Erna nimmt nun keinen falschen Spinat mehr mit. Sie nimmt jeden Tag etwas weniger Brot, damit es<br />

„reicht". Denn Brotkarten sind teuer: Fünf Mark das Stück. Mit fünfzig Pfennig Stundenlohn kann<br />

man sich diesen Luxus nicht leisten.<br />

Nach drei Tagen kommt sie wieder. Im Krankenhaus ist das auch so 'ne Sache: Man muss Brot-,<br />

Fleisch-, Kartoffel-, Butterund sonstige Karten abliefern, und sie durfte doch nicht einmal etwas essen.<br />

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