Adam Scharrer – Vaterlandslose Gesellen (1930) - linke-buecher.net
Adam Scharrer – Vaterlandslose Gesellen (1930) - linke-buecher.net
Adam Scharrer – Vaterlandslose Gesellen (1930) - linke-buecher.net
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
schwerer Kanonendonner zu hören. Unsere Kanonen stehen wie verlassen im Schnee. Die Batterie<br />
schießt gelegentlich irgendwohin, wie Übungsschießen, öfters auch von einer andern Stellung und<br />
kehrt wieder zurück.<br />
Die hohen Fichten und Föhren des unendlichen Waldes stehen wie riesige Zuckerhüte. Die<br />
mondklaren Nächte sind lang, unerträglich in ihrer monotonen Kälte und in ihrer Ruhe. Man ist<br />
versucht, steht man als Posten in einer solchen Nacht, die Frage zu stellen, ob dieses stumpfsinnigverbrecherische<br />
Beginnen, tief im Innern Russlands „das deutsche Vaterland zu verteidigen", noch<br />
überboten werden könne.<br />
Und doch ist schließlich jeder froh, dass der mit Pferdemist gemauerte Ofen endlich angesteckt<br />
werden kann, ein Riesenfeuer die starren Finger und Füße erwärmt und den Aufenthalt des Nachts<br />
erträglich macht.<br />
Die Befehlsgewalt der Unteroffiziere zeigt sich in ihrer ganzen Lächerlichkeit: die Elite des deutschen<br />
Heeres, die Einjährig-Kriegsfreiwilligen, laufen herum wie kranke Hasen.<br />
Die Proletarier haben auch vor dieser Zeit oft kein Dach über dem Kopf gehabt, waren heimatlos in<br />
ihrer Heimat, aßen in Zeiten der Arbeitslosigkeit schäbige Reste. Sie sind auch hier den Strapazen<br />
besser gewachsen. Die Herrensöhnchen, die zum ersten Mal ohne Wärmflasche schlafen, zum ersten<br />
Mal nach diesem groben Sport die temperierte Stube, das warme Bett,<br />
die Bedienung vermissen, verkörpern die trostlose Ängstlichkeit verlaufener Küken, die sich mit<br />
einem komischen Ernst paart. Sie wollen alle Helden sein und haben nicht den Mut, gegen die brutale<br />
Verhöhnung durch die Offiziere zu protestieren. Sie haben Angst, sich irgendwie mit den<br />
gewöhnlichen Muschkoten zu solidarisieren. Der Idealismus der bourgeoisen Jugend schrumpft hier<br />
zusammen zu einem kläglichen Häuflein Feigheit, Lächerlichkeit und Hilflosigkeit.<br />
Gustav kommt alle zwei Tage mit dem Lebensmittelwagen oder -schütten. Er kümmert sich nicht<br />
darum, in „Verdacht" zu kommen, in schlechter Gesellschaft zu sein, kommt freudig auf mich zu und<br />
reicht mir die Hand. Ich weiß, dass er Werner besuchte, und frage ihn.<br />
„He is noch schlechter fohrt as Armbrecht!"<br />
„Wie meinst du das ?"<br />
„Se häwt em beide Feut absägt."<br />
Wir schleppen Brot und sonstigen „Empfang" in den Unterstand. Gustav kommt noch einen Moment<br />
nach, wärmt sich die Hände und geht wieder.<br />
„Tschüs, Gustav —"<br />
„Tschüs, Hans — hol di munter!"<br />
„War wi schon moken." Der Falbe, der Wilzkis Schokolade fraß, tänzelt spielerisch in den Trab<br />
hinein, Gustav dreht sich noch einmal um und winkt mit der Peitsche.<br />
Ich lese meine Post. Sie kommt, wie ein Wunder, bis an die Rokitno-Sümpfe. Ein längerer Brief von<br />
Sophie ist dabei.<br />
Sie arbeitete bei Blohm & Voß. Sie klagt nicht, will mich nicht beunruhigen, aber die bloße<br />
Aufzählung der Tatsachen sagt genug.<br />
Man zwingt die Frauen, Hosen anzuziehen. „Ich bin groß" — schreibt sie — „und in den Hosen treten<br />
die Formen des Körpers schärfer hervor. Ich hätte nicht geglaubt, dass viele deutsche Arbeiter keine<br />
anderen Sorgen haben, als lüstern nach den Frauen zu schielen, ihre einzige Unterhaltung sind banale<br />
Anspielungen, und sie sehen hauptsächlich in den ,Kriegerwitwen' die Objekte, auf die man ungestraft<br />
Jagd machen darf. Ich wollte eigentlich sofort wieder gehen, aber ich arbeitete mit einem Menschen<br />
zusammen, der mir sehr viel war; er schonte mich, wo er konnte, griff das Vorhalteisen immer selbst<br />
mit einer Hand, wenn er nietete, gab mir von allem, was er von seiner Frau geschickt bekam,<br />
verdeutschte mir die Briefe, die sie ihm schrieb, schenkte mir beiliegendes Bild."<br />
Ich besehe mir das Bild: ein noch junger Mann und seine Frau mit einem kleinen Jungen. Adresse und<br />
Text sind in französischer Sprache.<br />
Dieser gefangene französische Arbeiter ist der einzige Mensch in diesem Betrieb, der Sophie „was<br />
sein konnte".<br />
Bis der Betriebsleiter, der darüber wacht, dass die Ehre der deutschen Frauen nicht angetastet wird,<br />
mit der Schmach ein Ende machte, dass deutsche Frauen mit gefangenen Feinden zusammen arbeiten<br />
— und anscheinend vergessen, dass ihre vaterländische Pflicht ist, diesen ohne Schwäche ihre<br />
Verachtung zu zeigen. Dass deutsche Frauen den gefangenen Franzosen, die nie die Werft verlassen<br />
dürfen, zu ihrem eintönigen Fraß für ihr Geld einige Abwechslung mit hereinbringen, einmal eine<br />
französische Tafel Schokolade, ein Stück Weißbrot untereinander teilen, ist ein unhaltbarer Zustand.<br />
59