Adam Scharrer – Vaterlandslose Gesellen (1930) - linke-buecher.net
Adam Scharrer – Vaterlandslose Gesellen (1930) - linke-buecher.net
Adam Scharrer – Vaterlandslose Gesellen (1930) - linke-buecher.net
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Zickel hat seine schmutzigen Finger in allen Dingen. Sie wären längst fort, hätte ich Ihre Notierung<br />
nicht einfach unterschlagen!"<br />
„Müssen Sie auch wieder ins Feld ?"<br />
„Ich gehe freiwillig. Ich bin vielleicht in drei Wochen schon draußen. Wenn einmal die Rede davon<br />
sein sollte, dann wäre es mir lieb, dass die Arbeiterschaft erfährt, dass ich mich nicht von den den<br />
Werken überwiesenen Lebensmitteln bestechen ließ. Im Gegenteil: Was in meinen Kräften stand, Sie<br />
und viele andere zu halten, habe ich getan."<br />
Drei Tage vor dem Termin gehe ich zum Reklamationsbüro. Herr Zickel empfängt mich grinsend und<br />
sagt: „Ich sage Ihnen noch einmal, Sie können ganz ohne Sorge sein!" — Dann zu der Sekretärin: „Die<br />
Sache mit Betzoldt ist doch als außergewöhnlich dringend erledigt worden ?"<br />
„Es ist alles erledigt, Herr Zickel." Sie vermeidet mich anzusehen.<br />
Herr Zickel gafft mich von neuem an, als wolle er sagen: Gehen Siel Warum denn so misstrauisch?<br />
und dann, als ich noch zögere, verabschiedend: „Sie erhalten sofort nach Eingang Bescheid!"<br />
Aber ich gehe noch nicht, auch nicht, als Herr Zickel sich demonstrativ anderen Dingen zuwendet. Ich<br />
lasse ihn erst fragen: „Wünschen Sie sonst noch etwas ?"<br />
„Ich wollte Ihnen sagen, Herr Zickel, dass Sie eine derart infame und dreckige Kreatur sind, dass ich<br />
mich wundere, dass Sie nicht längst mit dem E. K. erster Klasse hier sitzen!"<br />
Herr Zickel setzt einige Male zum Reden an. Sein hässlicher Mund unter dem lächerlich dünnen Spitz-<br />
und Schnurrbart bleibt aber in einem blöden Grinsen stecken. Er möchte aufstehen, wagt es aber nicht.<br />
Er wagt noch nicht einmal zu rufen.<br />
„Geben Sie mir bitte meinen Schein, er liegt dort in dem Kasten, so wie Sie ihn hineingelegt haben!"<br />
Da fühle ich, wie man mich von hinten zu packen sucht. Ich bin mit einem Satz über der Barriere,<br />
fasse einen Stuhl mit beiden Händen und sage: „Meine Herren, der erste, der herankommt, riskiert<br />
seinen Kürbis. Ich verlange weiter nichts als meinen Schein, er liegt dort in dem Kasten!"<br />
Ich bin gar nicht willens, es darauf anzulegen, mich von der leicht herbeizurufenden Wache<br />
überwältigen zu lassen, im Gegenteil: ich möchte am liebsten laut lachen. Aber man muss mich doch<br />
für einen außergewöhnlich gefährlichen Menschen halten und möchte einen Skandal vermeiden. —<br />
Deshalb rief man nach Riedel, der pustend auftaucht. Er hört, schaut unschlüssig zu mir herüber und<br />
sagt dann: „Betzoldt, mach keine Dummheiten, ich werde der Sache auf den Grund gehen!"<br />
„Können wir gleich machen. Sieh dort den Kasten nach, darin liegt der Schein!"<br />
Da springt Zickel, als brenne ihm der Stuhl unter dem Hinterteil, zu dem Sekretär hin und verschließt<br />
ihn. „Meine Herren!" sagt er dann, „ich mache Sie darauf aufmerksam, dass Sie sich des<br />
Hausfriedensbruches schuldig machen. — Ich bitte nunmehr — sonst!" Er hat schon das Telefon in<br />
der Hand.<br />
Riedel ist baff. Ich gehe lachend auf ihn zu und sage: „Komm, bist ein guter Kerl, aber dem Gauner<br />
bist du nicht gewachsen. Ich hab dir doch gesagt, wo der Schein liegt, warum langst du nicht zu! ?"<br />
Er braucht Zeit, um sich zu sammeln. Dann sagt er: „Magst recht haben, Betzoldt, aber man nimmt<br />
doch nicht immer das Schlimmste an. — Leb wohl!" Er geht über den Hof hin, lang und knickend.<br />
Wenn er hinfallen und nicht wieder aufstehen oder sich in irgendeiner Ecke verkriechen und weinen<br />
würde: ich würde mich nicht wundern.<br />
Die letzten Tage und Stunden sind immer die schwersten. Der Händedruck der Genossen ist wortlos.<br />
Ermunterungen sind billig und lästig für den, der geht. Sie wissen das und schweigen.<br />
Sophie weiß, dass viele schon in den Gefängnissen durch den Hunger umgebracht oder auf Festung zu<br />
Tode gehetzt wurden. Sie grübelt und schweigt auch.<br />
Ich habe nur noch einen Wunsch: außer Sehweite zu sein. Dem, was da kommt, begegnen zu können,<br />
unbeachtet von ihren Augen. Ich bin so radikal fertig mit dem Vorsatz, nicht mehr hinauszuziehen,<br />
dass sich alle meine Gedanken auf zwei Möglichkeiten konzentrieren: Flucht oder Gefängnis. Alles<br />
andere scheidet aus.<br />
Die Uhr geht mir zu langsam. Wenn schon, denn schon! Jeder Versuch, den andern aufzurichten, ist<br />
Täuschung — das kribbelt in den Fingern, den Zeiger mit einem Ruck hinzustoßen — Schluss!<br />
Und dann kriecht es doch hoch, von den Zehen durch Schenkel und Brust, bleibt stecken im Hals. Ich<br />
fühle, wie die Muskeln in meinem Gesicht aus dem Spiel fallen. Ich habe mich nicht mehr in der<br />
Gewalt, darf jetzt keine Dummheit machen, nicht etwa versuchen zu lachen, wer weiß, welche<br />
Grimasse das werden könnte.<br />
Ich nehme meinen Pappkarton, gebe Bertha und dann Sophie die Hand, drücke ihre Hand einmal,<br />
zweimal. Bertha streckt ihre Ärmchen, jauchzt auf und will Sophie vom Arm springen.<br />
110