Adam Scharrer – Vaterlandslose Gesellen (1930) - linke-buecher.net
Adam Scharrer – Vaterlandslose Gesellen (1930) - linke-buecher.net
Adam Scharrer – Vaterlandslose Gesellen (1930) - linke-buecher.net
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Eine geschäftstüchtige Frau, bei der ich Ansichtskarten und Zigaretten kaufe, nimmt sich meiner an,<br />
als ich ihr mein Leid über die Wohnungsmisere klage, und stellt mir anheim, zu ihr zu ziehen. Auf ihr<br />
Häuschen wird ein Vorbau aufgesetzt. Fenster sind noch nicht drin, Türen auch nicht. Eine Feldbettstelle<br />
steht da, zugedeckt mit Säcken, damit nicht allzu viel Maurerdreck darauffällt. In einer Kiste<br />
steht die Waschschüssel.<br />
Die Frau macht's billig. Vier Mark die Woche. Wenn alles fertig ist und es nicht mehr hereinreg<strong>net</strong>,<br />
kann man weiter reden. Ganz <strong>net</strong>t ist die Frau!<br />
Aber ich bin zu verwöhnt. Draußen liegen sie im Dreck, und ich klage schon, weil ich im Neubau<br />
wohnen soll. Ich bin absolut darauf verpicht, dass ich nach zwölfstündiger Arbeit einen Platz für mich,<br />
ein Bett haben muss.<br />
Die Zehntausend, die morgens und abends aus Dutzenden von Fabriktoren hinein- und herausströmen<br />
— das ist das Antlitz des Krieges in Zivil. Das Gespenst des Schützengrabens verfolgt sie bei Tag und<br />
bei Nacht. Sie sind vom Hunger gezeich<strong>net</strong>. Sie gehen alle — scheint mir — als trügen sie eine<br />
schwere Last. Sie wohnen in dichten Massen in Löchern, blicken finster, wie die Farbe der Mauern.<br />
Auf ihren Gesichtern liegt es wie Kohlenstaub. Sie gehen stumm, nur hier und da murrt einer, aber so,<br />
dass es kein Unbefugter hört.<br />
Im Restaurant „Muschelhaus" sitzen sie und warten — auf den Frieden. Sie essen Muscheln, vor<br />
Hunger, nur um den Magen zu füllen. Die gibt es noch ohne „Karten". Die Leute sind reklamiert aus<br />
allen deutschen Ländern. Ich spreche mit<br />
diesem und jenem. Jeder sagt: „Besser als im Schützengraben!" Sie wollen sich nicht verdächtig<br />
machen, sind vorsichtig. — Wie die Bewohner des besetzten Gebiets.<br />
Vor der Kantine stehen sie wie Bettler, wollen Marken haben, aber nur eine beschränkte Zahl kann<br />
„verpflegt" werden.<br />
Mich würgt diese Atmosphäre von Lüge, Heldentum. Abends gehe ich zur Nachtschicht. In meinem<br />
Hirn reift ein Entschluss.<br />
Der Meister kriecht zwischen den Kanonenrohren umher. Ich gehe auf ihn zu. „Kommen Sie, bitte,<br />
einmal mit!"<br />
Er ist erstaunt, aber er folgt mir.<br />
„Ich möchte einmal wissen, was ich hier verdiene", beginne ich. Er stutzt, stiert mich an und sagt:<br />
„Wenn Sie eingearbeitet sind, soviel wie Ihr Ablöser, solange das nicht der Fall ist, Schichtlohn."<br />
„Wieviel ist das ?"<br />
„Sechs Mark die Schicht!"<br />
„Wer bestimmt das ?"<br />
„Vorderhand ich, wenn Sie nicht einverstanden sind, gehen Sie zum Betriebsleiter!"<br />
Mein Ablöser grinst. Ich überlege, ob ich den Meister ohrfeigen soll, beherrsche mich aber.<br />
Der Meister trottet, schwer schleppend an seiner Autorität, von der Bank fort. Ich rücke ein. Lass<br />
laufen die Karre!<br />
Eine halbe Stunde mag vergangen sein. Zwischen den Kanonenrohren, den Riesenlafetten, den<br />
riesigen Türmen der Schiffsgeschütze laufe ich umher. Meisterhaft ist die Maschinerie für die<br />
Zerstörung alles Zerstörbaren entwickelt und organisiert. Die Menschen opfern sich für dieses „große<br />
Werk" bis zur Selbstvernichtung.<br />
Als ich komme, hat sich ein Stahlhalter gelockert. Die rohe Welle wurde immer stärker, der<br />
Stahlhalter gab nach, aber er stand im schrägen Winkel zur Welle und konnte rückwärts nicht<br />
abkommen, auch nicht durch die Klaue, weil diese zu stark gerippt war. Er mahlte sich in die Welle<br />
hinein, tief, einen Arm kann man hineinlegen.<br />
Ich hole meinen Meister. Er sieht die Bescherung und—kann<br />
nicht sprechen vor Schreck. Nur soviel höre ich, dass das sein Unglück sein kann.<br />
Dann drehen wir hinter der Vertiefung auf Maß aus, so dass ein starker Rand daneben stehen bleibt.<br />
Mit einer hydraulischen Walze walzt er dann die Bescherung zu und jammert in einem fort, ich solle<br />
nichts verraten und ihn nicht unglücklich machen.<br />
Morgens gehe ich zum Betriebsleiter. Der hört mich an, kratzt sich hinter den Ohren und sagt:<br />
„Vorschuss können Sie bekommen, den dritten Teil des verdienten Lohnes." Ich rechne: Abzüglich<br />
Knappschafts-, Pensions-, Invaliden-, Kranken- und sonstiger Kassen ist das soviel, dass ich einmal im<br />
„Muschelhaus" Abendbrot essen und schlafen kann.<br />
„Meine Frau hat entbunden, große Auslagen, außerordentlicher Fall." Ich kann nicht anders zu<br />
meinem Recht kommen, als dass ich den Patrioten spiele, und bitte, meinen Fall als Ausnahme zu<br />
38