Adam Scharrer – Vaterlandslose Gesellen (1930) - linke-buecher.net
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„Sie gibt mir öfter Milch", sagt Sophie, „sie hat sechs Kinder, kann die Milch, die sie bekommt, gar<br />
nicht kaufen."<br />
„So viel ?"<br />
„Na, für die ganz kleinen einen halben, für die andern einen viertel Liter. Ihr Mann arbeitet in der<br />
Artilleriewerkstatt. Sie kann natürlich nicht alles bezahlen, was es auf Karten gibt."<br />
„Und die Kinder ?"<br />
„Denen muss sie eben geben, was sie hat. Wenn sie nicht jede Woche ein paar Brotkarten verkaufen<br />
würde, käme sie gar nicht zurecht. Rechne dir doch aus: Acht Brote die Woche, die Milch, die<br />
Kartoffeln, die Butter und Margarine, auf acht Karten Fleisch. Dem Mann muss sie doch etwas aufs<br />
Brot legen, er ist von morgens fünf bis abends sieben Uhr unterwegs. Das muss sie hintenrum kaufen,<br />
und das ist teuer."<br />
Mir spukt ein Zeitungsartikel, den ich in irgendeiner Gewerkschaftszeitung gelesen habe, im Kopf<br />
herum: „Sozialismus, wohin wir blicken!" Er verherrlichte die ideale Verteilung der Lebensmittel in<br />
Deutschland. Für jedes Kind ist gesorgt, amtlich registriert, auf welche Menge Milch, Fleisch, Brot<br />
usw. es Anspruch hat. Nur der kleine „Schönheitsfehler", dass der Vater bei vierzehnstündiger<br />
Schufterei die amtlich garantierten Sachen nicht kaufen kann, ist nicht berücksichtigt.<br />
Da fängt es schon an: Wer Geld hat, kauft Milchkarten, Brotkarten. Frau Gramer kauft dafür mehr<br />
Kohlrüben. Der „Sozialismus", in den ich blicke, steht vor mir als der Gaunertrick, den Kindern das<br />
Brot aus der Hand, die Milch aus der Tasse zu nehmen, den letzten Rest menschlicher Nahrung, schon<br />
so winzig, um dabei zu verhungern.<br />
Ich greife nach der Zeitung: „Zeich<strong>net</strong> Kriegsanleihe!" Dann ein langer Schmus von der<br />
Friedensbereitschaft Deutschlands, dem unberücksichtigten Friedensangebot der deutschen Regierung<br />
schon 1916. „Deutschland will den Frieden, nur die Feinde wollen ihn nicht, deswegen müssen wir<br />
unbedingt<br />
durchhalten.-------Streik ist Verbrechen am Vaterland. Die<br />
Amerikaner werden sich schön wundern, ihre Truppen, die sie herüberschaffen wollen, werden einfach<br />
durch unsere U-Boote<br />
versenkt.------Die Fronten stehen unerschütterlich. — Die<br />
Stimmung der Truppen ist vorzüglich."<br />
Ich werfe die Zeitung hin und sage: „Komm, lass uns gehen." Mir wird die Stube zu eng. Ich bin tags<br />
zuvor fast nicht fortgewesen. Vier Tage sind schon um. In drei Tagen muss ich wieder abdampfen.<br />
Sophie räumt auf und wir gehen. Die Luft ist schon mild, der Frühling zieht nun zum dritten Mal ins<br />
Land.<br />
An allen Läden stehen lange Reihen von Frauen, Männern, Kindern. Aus ihren hungrigen Gesichtern<br />
grinst der Krieg. Sie warten auf ihre „Gramm". Vor einem Pferdemetzgerladen ist Krach. Es soll da<br />
nicht reell zugegangen sein. Ich weiß nicht, was verschoben worden ist. Eine Frau deutet auf ihren<br />
Korb und schimpft: „Der Dreck ist ja für uns gut genug, Bande, die!" Ich sehe in ihren Korb. Sie hat<br />
Pferdeknochen darin; ein Stück Vorderfessel ist dabei, die Haare hängen noch daran.<br />
Die ganze zum Viehhof führende Straße hinauf stehen Hunderte von Menschen. Einige haben sich<br />
Schemel oder zusammenklappbare Stühle mitgebracht, sitzen darauf, stricken, lesen oder plaudern. Sie<br />
warten hier auf „billiges" Fleisch. Deutschland spart, die Armen sind froh, für ihren sauer ver-<br />
dienten Lohn von dem Abfall zu bekommen, einen Brocken Fleisch von krankem Vieh, das sich nicht<br />
mehr lohnt zu verschieben. Es wird schon dunkel. Als ich Sophie frage, ob heute noch verkauft wird,<br />
sagt sie: „Die stellen sich an zu morgen früh."<br />
Anna lässt sich es nicht nehmen, uns zu bewirten. Gustav hat Sophie russischen Tee mitgebracht, den<br />
Sophie mit Anna teilte, so braucht sie mich nicht mit dem Kriegs„kaffee" zu quälen. Sie hat auch —<br />
durch Klaus — ein bisschen „Verbindung", hat ein paar Kartoffeln, die sie „brät". Als Sophie ihr ein<br />
Brot gibt und ein Stück Butter und Speck, sagt sie: „Deern, hest doch'n beten früher kommen könn,<br />
denn her ick to de Kartoffeln nich schwarten Kaffee nehmen brukt."<br />
Klaus besohlt Schuhe. Er hat eine Zigarrenschachtel kleiner Lederschnitzel, länglich-rundlich gestanzt,<br />
vor sich und nagelt auf Marthas Schuhsohlen eines neben das andere. Martha kommt erst um halb elf<br />
Uhr. Sie hat die zweite Schicht. Als Klaus das Brot entdeckt und die Butter, legt er seinen eisernen<br />
Leisten fort, setzt sich an den Tisch und schmiert sich ein Brot. Anna legt das Brot für Martha<br />
vorsichtshalber weg. „Besser is besser", sagt sie mit komischem Ernst. Dann sitzen wir zusammen und<br />
essen.<br />
Wie sich die Menschen doch verändern! Als wäre alle Aktivität in ihnen zerbrochen. Selbst Klaus,<br />
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