Adam Scharrer – Vaterlandslose Gesellen (1930) - linke-buecher.net
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ihre Füße gegen die meinen. Ich halte sie fest und lehne sie an die Wand. Sie fasst mit beiden Händen<br />
nach dem Rücken. „Ich kann nicht stehen. Hier — oh!" „Wir müssen fort. Ich werde Sie führen!" Sie<br />
antwortet nicht, lässt die Arme hängen, ihr Gesicht sieht grauenhaft aus. Ich sehe nach der Tür.<br />
Draußen ist alles ruhig, auch einzelne Fußgänger sind schon wieder zu sehen. „Bitte, versuchen Sie,<br />
fassen Sie mich unter." „Ich kann ja nicht!" Dann sinkt sie in sich zusammen. Ich ziehe meinen<br />
Soldatenmantel aus und wickle sie darin ein. Dann versuche ich sie zu tragen, eine Hand ist ja heil,<br />
und die eine Schulter auch. Es geht — leichter als ich dachte. Ein kleines Bündel Haut und Knochen.<br />
Ich gehe mit meinem Bündel in dem Soldatenmantel über die Straße, in einen Hof, von Tür zu Tür.<br />
Die nicht verschlossen hatten, schließen rasch, als sie hören, was für ein Besuch das ist. Im zweiten<br />
Hof erhalten wir dann von einem Zigarrenarbeiter Einlass.<br />
Dort erholt sie sich langsam, kommt wieder zur Besinnung. Man hat ihr drei Zähne eingeschlagen, die<br />
Lippen sind aufgeplatzt. Der Rücken weist mehrere blutunterlaufene Striemen auf. Sie rühren von den<br />
Plempen her, von denen ich wohl eine griff, ehe sie mich traf, und die mir der Blaue durch die Hand<br />
zog. Sämtliche Finger sind innen fast bis auf den Knochen durchschnitten.<br />
Die Arbeiterin nennt ihre Adresse. Die alte Frau des Zigarrenarbeiters will gehen. Da sagt sie: „Wenn<br />
niemand da ist, klopfen Sie bei der Nachbarin und sagen dort Bescheid." „Haben Sie keine Eltern<br />
mehr?" „Nur noch eine Mutter. Sie steht vielleicht an." „Und Ihr Vater?" „Der ist gefallen, gleich zu<br />
Anfang, in Polen."<br />
Sophie wäscht. Sie freut sich, als sie mich sieht. „Bist schon drinnen gewesen ?" fragt sie, weil ich<br />
ohne Mütze vor ihr stehe. — „Wie steht's ?" „Ganz gut."<br />
„Gehst du wieder fort? Könntest mir die großen Stücke auswringen und Wasser zulassen, wenn du<br />
Zeit hast."<br />
Da stutzt sie. „Was hast du denn?!" Ich muss mich verdächtig gemacht haben, denn sie fragt ängstlich,<br />
erschrocken.<br />
Meine Hand kann sie nicht sehen, sie ist mit dem Taschentuch verbunden in der Manteltasche. Aber<br />
ich spüre ein Zittern in allen Knochen.<br />
„Hat Prügel gegeben, die Blauen haben dazwischengehauen", sage ich.<br />
„Ist dir was passiert?"<br />
„Hab einem die Plempe weggerissen und hab mich geschnitten, weiter nichts."<br />
Sie geht mit mir in die Stube, wäscht mir die Hand aus und verbindet sie. Dann sinkt sie zusammen,<br />
schnappt nach Luft, schreit auf.<br />
Ich bringe sie aufs Bett. Sie wehrt ab, als ich sie zu beruhigen suche, und sagt: „Hol die Hebamme!"<br />
Als in den Häusern Licht wird, sitze ich neben Sophie am Bett. Sie lacht trotz ihrer Schmerzen, als ich<br />
die Puppe aus den Händen der Hebamme nehme. Ich streiche ihr die Haare aus der Stirn, bringe die<br />
Hebamme an die Tür. „Alles in Ordnung", erklärt diese. „Viel Glück, Herr Betzoldt!"<br />
Sophie übermannt die Müdigkeit, ihr blasses Gesicht will immer zur Seite fallen. Ich lege ihr die<br />
Kissen zurecht. Sie sinkt matt hintenüber, stöhnt in Schmerz auf — und schläft.<br />
Langsam löse ich meine Hand aus der ihren, hole mein Bettzeug und mache mir auf dem Fußboden<br />
hinter ihrem Bett mein Lager zurecht. Meine Hand hämmert, meine Schulter schmerzt bei jeder<br />
Bewegung, ich kann mich nicht entkleiden. Macht auch nichts. Hab ja so oft in den Kleidern gelegen.<br />
Ich liege mit offenen Augen, höre die ersten Schreie des Kindes, das Stöhnen Sophies, höre, wie sie<br />
phantasiert, liege, bis die kleine Lampe ausgebrannt ist. Als ich sie füllen will, erwacht Sophie. Mein<br />
Verband ist durchblutet, meine Hand stark geschwollen. Sie erschrickt und sagt: „Mach sofort warmes<br />
Wasser!"<br />
Ich weiche mir den Verband ab. Die Wunde ist von geronnenem Blut überkrustet. Soll ich 2um Arzt<br />
gehen ? Zu welchem Arzt ? Ich kann nicht verschweigen, wo ich arbeite, dass ich zu den Streikenden<br />
gehöre. Die Morgenzeitungen sind voll von verlogener Hetze gegen die Streikenden. Was liegt näher<br />
als eine Denunziation ?<br />
Dazu ist immer noch Zeit. Ich bade meine Hand täglich mehrere Male in Seifenwasser. Teile den Rest<br />
der „Friedensseife" mit der Kleinen. Die Geschwulst geht zurück, die Wunde wird besser.<br />
Am zweiten Tag kommt Walter. In Berlin, in Hamburg, in Dresden, in vielen Städten Deutschlands<br />
stehen die Räder still.<br />
„Wie ist die Stimmung ?"<br />
„Gut. — Hoffentlich halten sie aus!"<br />
Ich will Sophie nicht verlassen, so lange sie liegen muss. Aber am vierten Tag gehe ich. Sie selbst will<br />
es so.<br />
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