Adam Scharrer – Vaterlandslose Gesellen (1930) - linke-buecher.net
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„Danke, du auch!"<br />
„Ich werde gut schlafen", erwidert sie zärtlich.<br />
Ich liege noch lange wach. Wie bald kann ich wieder in dem Ehrenkleid stecken ? Zu der<br />
nervenfressenden Selbstdisziplin kommt noch die Sorge, dass ein drittes totes Kind ihr das Leben<br />
kosten kann.<br />
Wie verabredet treffe ich mich mit Krüger früh um fünf Uhr zur „Hamsterfahrt". Krüger hat ein<br />
Bündel kleingeschnittener Treibriemen, einen begehrten Artikel zum Besohlen von Schuhen. Leder<br />
gibt es fast nicht mehr.<br />
Ich habe die Absicht, meine langen Artilleriestiefel zu opfern. Sie sind mir zu schwer und —<br />
vorderhand — bin ich noch mit Schuhen versehen. Wir jagen nach Fettigkeiten.<br />
Sie wollen umdrehen, da ist ihnen schon der Rückzug durch den Tunnel abgeschnitten. Man reißt<br />
ihnen die Rucksäcke vom Körper. Sie klammern sich an ihren Kartoffeln fest.<br />
„Lass los, Aas verfluchtes!" brüllt ein Uniformierter, und stößt das Weib mit dem Kolben vor die<br />
Brust, dass sie rücklings stöhnend hinfällt. Dann nimmt er den Rucksack und wirft ihn auf den Haufen.<br />
Eine alte Mutter klammert sich fest an ihren Sack und jammert: „Lasst mir doch die paar Kartoffeln<br />
für meine Kinder!"<br />
Man stößt sie beiseite und wirft ihren Rucksack auf den Haufen. „Euch werden wir schon kriegen, ihr<br />
Bande!" höre ich den Vaterlandsverteidiger brüllen.<br />
In der Mitte rottet sich die Menge zusammen. Meist Frauen, aber auch Kinder. Verzweifelte Hände<br />
fassen die gezückten Kolben, betteln herzerweichend. Kinder schreien.<br />
Es gibt kein Erbarmen. Der Haufen wird auseinandergeschlagen. Eine Frau taumelt wie betäubt auf<br />
eine Bank, ihre Arme suchen gar keinen Halt mehr. Sie fällt steif am Geländer entlang, mit dem Kopf<br />
auf die Lehne und aufs Pflaster. Wir packen sie und schleppen sie in den Wagen.<br />
Die Schlacht ist beendet.<br />
Die Sieger stehen, das scharf geladene Gewehr bei Fuß, um ihre Beute herum. Der Herr Wachtmeister<br />
verkündet: „Wer Reklamationen hat, kann sich auf der Bahnhofs wache melden!"<br />
Der Zug fährt ab. Sie kehren mit leeren Händen heim, ausgehungert, müde, durchnässt, verprügelt,<br />
ohne Rucksack und ohne den Wochenlohn, den mancher geopfert haben mag, weil ihm der „Lieferant"<br />
die Sachen nicht ins Haus bringt. Neben mir erholt sich eine Frau langsam aus der Erstarrung.<br />
„Habe mir meinen Rucksack noch geborgt", sagt sie, „er ist fast neu. Vierzehn Tage habe ich beim<br />
Bauern geschneidert — um zwanzig Pfund Kartoffeln und ein Pfund Butter."<br />
„Das müssen Sie doch alles wiederbekommen?"<br />
Die Frau bleibt stumm, verzieht nur, bitter lächelnd, den Mund.<br />
Ihre Nachbarin sieht mich erstaunt an. „Wenn Sie noch ein paar Monate Knast haben wollen, wegen<br />
Widerstandes gegen die Staatsgewalt, können Sie sich ja melden", belehrt sie mich.<br />
Gegen Mitternacht bin ich zurück. Sophie wartet noch. Ich lege das halbe Pfund Speck und das Stück<br />
Brot auf den Tisch. Sie sieht nach meinen Füßen, sieht, dass ich die Stiefel noch anhabe und auch die<br />
Schuhe wieder mitgebracht habe.<br />
„Hast du das so bekommen?"<br />
„Nein, das ist vom Genossen Krüger."<br />
„Na ja! Das erste Mal! — Wenigstens nicht ganz umsonst!" Sie lacht mir ermunternd zu. „Darf ich ein<br />
Stückchen essen ?"<br />
„Aber natürlich, dazu ist es ja da!"<br />
„Ist sonst alles gut gegangen ?"<br />
„Ja."<br />
Was soll ich ihr sagen? Sie würde sich zu sehr aufregen. Sie soll nicht merken, wie mich diese<br />
Verantwortung hemmt und quält.<br />
„Wenn die Massen nicht wollen", meint Langenscheid, mit dem ich darüber spreche, „dann nützt alle<br />
Bravour nichts. Dann ist es eben noch nicht soweit!"<br />
Langenscheid hat Frau und Kinder in Leipzig, fährt jeden Sonntag hin, kommt montags wieder. Er<br />
drückt sich vor keiner propagandistischen Arbeit, aber er erledigt alles für sich. Er ist ein fleißiger,<br />
zuverlässiger Werkzeugdreher, vom Meister als erstklassige Kraft geschätzt. Fast stupid sieht er aus,<br />
so auf den ersten Blick. Sein graugesprenkelter kurzgeschorener Schädel ist wie ein primitiver<br />
Bauernkopf.<br />
Ich gehe zu ihm, begrüße ihn. Auf seiner Bank liegt seine Brieftasche, in ihr ein Bild, eine Frau; sie<br />
hat einen Jungen und ein Mädchen an der Hand, lacht wehmütig, und die Kinder machen wichtige<br />
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