Adam Scharrer – Vaterlandslose Gesellen (1930) - linke-buecher.net
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„Du staunst", beginnt sie von neuem, „aber es hätte keinen Sinn gehabt. Paul wollte wirklich nicht,<br />
aber einer nach dem andern fiel um. Ich habe es wohl von Anfang an geahnt, dass es zum Schluss so<br />
kommen wird. Mayer, Hartung und May sind ebenfalls fort. Mein Mann war zuletzt allein. Du weißt,<br />
Hartung hat drei kleine Kinder, was soll seine Frau machen? Mayers Frau ist vollkommen verhext, sie<br />
würde ihren Mann direkt verraten. May ist zusammengeklappt. Es ist kein Wunder. Lies doch das<br />
,Echo'."<br />
Sie weist auf die Zeitung, die den Entschluss der sozialdemokratischen Fraktion bringt, in der Stunde<br />
der Gefahr das Vaterland nicht im Stiche zu lassen. Darunter die Botschaft Kaiser Wilhelms, dass er<br />
keine Parteien mehr kenne, und Martha schließt mit Nachdruck: „Das sind alles ganz gemeine Halunken<br />
und Verräter!" Ich schweige immer noch, bis sie noch einmal fragt, ob ich fort muss. Ich berichte.<br />
„Was nun?"<br />
„Kann ich hier wohnen ?"<br />
Sie überlegt, als hätte sie Angst vor der eigenen Antwort. Dann sagt sie, etwas schüchtern: „Hans, jetzt<br />
gerade, kurz nachdem Paul fort ist — du musst verstehen — ich möchte das nicht — du weißt doch —<br />
kannst du nicht woanders wohnen?" Und als ich nicht antworte, fährt sie, wie entschuldigend, fort:<br />
„Sieh, wenn Paul das erfahren würde, dann könnte er sich doch allerhand denken, das musst du doch<br />
verstehen."<br />
Ich bin darauf nicht vorbereitet. Wo soll ich wohnen ? Ich muss versteckt, heimlich, unangemeldet<br />
irgendwo sein können. Wo soll ich das finden, wenn nicht bei Genossen ? Alle sind sie umgefallen, bis<br />
auf Paul, der ging als letzter. Nun bin ich der letzte. Ich darf nicht einmal bei seiner Frau bleiben, „was<br />
sollen die Leute denken".<br />
Ich stehe auf und gehe. „Leb wohl, Genossin Mertens, grüße Paul, wenn du ihm schreibst." „Bist du<br />
mir böse, Hans ?"<br />
„Nein, gar nicht. Ich muss eben sehen, wo ich bleibe."<br />
Ich gehe. Sie begleitet mich bis vor die Tür, um noch einmal zu fragen: „Hans, bist du mir wirklich<br />
nicht böse?"<br />
„Nein, ich bin dir nicht böse!"<br />
Sie war mir so fremd und so gleichgültig geworden, ich konnte ihr gar nicht böse sein.<br />
Ich schaue über die Reeperbahn. Ein Zug Soldaten kommt daher, dann Geschütze, Bagage, Sanitäter.<br />
Dicht stehen die Massen, an den Seiten. Sie bewerfen die Soldaten mit Blumen. Die Soldaten singen.<br />
Die Massen singen mit, laufen neben ihnen her. Sie gehen und reiten nach dem Heiligengeistfeld. Ich<br />
gehe mit. Ich habe kein Ziel mehr an diesem Tage. Ich muss erst einmal schlafen. Ich bin müde, so<br />
furchtbar müde!<br />
Ein Gewitterregen hat den Staub niedergeschlagen; die Sonne liegt satt und heiß über Menschen und<br />
Pferden. Kommandos ertönen: „Aufgesessen!" „Abgesessen!" „Protzt ab! „Erstes, Feuer!" „Zwotes,<br />
Feuer!" „Batterieantreten!" „Stillgestanden!" „Augen . . . rrrechts!!"<br />
Ein alter Graubart mustert die ins Feld ziehenden Batterien. Die Vaterlandsverteidiger stehen wie<br />
entseelt und heften die Augen wie elektrisch dirigierte Puppen auf ihn. Keine Wimper zuckt in der<br />
uniformierten Mauer. Alles steht stumm und dumm. Der Hauptmann scheint zufrieden.„Lassen Sie<br />
rühren", befiehlt er herablassend dem Leutnant.<br />
Ich helfe mir, weil ich doch keinen Gedanken mehr formen kann, mit einem Lächeln. Ich weiß nicht,<br />
ob die Liebenswürdigkeit der Damen, die in der Kriegsküche, unweit davon, für fünfzehn Pfennig<br />
große Portionen Essen verabreichen, Schauspielerei, Heuchelei oder nur Dummheit ist. Ich will auch<br />
nichts mehr wissen.<br />
Nachdenken kann ich erst wieder, als ich auf dem Heiligengeistfeld einige Stunden geschlafen habe.<br />
Ich lag da nicht allein. Ein großer Teil der Gäste der Kriegsküche lag ebenfalls dort. Sie hatten wohl<br />
seit langem nicht so reichlich und gut für fünfzehn Pfennig gegessen. Die Sonne war wieder hinter<br />
den Wolken, als ich erwachte; es war schon gegen Abend und kühl. Ich muss ein Dach über dem Kopf<br />
haben für die Nacht.<br />
Ich legitimiere mich vorschriftsmäßig im Gewerkschaftshaus und löse mir eine Schlafkarte. Dann<br />
nehme ich das vorgeschriebene Brausebad und gebe mein Hemd hin, um es nach Läusen untersuchen<br />
zu lassen. Der Stempel auf der Schlafkarte legitimiert mich als ungezieferfrei. Ich gehe ins<br />
Fremdenzimmer. Mir scheint, als spreche aus allen Gesichtern bewusste Zurückhaltung, Ablehnung.<br />
Die Stiefkinder der Gesellschaft müssen auf die Freuden dieser Gesellschaft verzichten, und sie<br />
verzichten auch auf ihre Dummheiten. Zwei an meinem Tisch, augenscheinlich Reisekollegen,<br />
unterhalten sich über die Zeitung, die sie lesen. Der eine legt sie mit einem höhnischen Lächeln fort.<br />
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