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Adam Scharrer – Vaterlandslose Gesellen (1930) - linke-buecher.net

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Selbst diesen einen Vorteil ihrer Krankheit, dass sie infolge ihres ausgepumpten Magens drei Tage<br />

fasten musste und so mit ihren Karten wieder etwas nachkäme, hat sie nicht wahrnehmen können.<br />

„Sie sind ungeheuer blutarm", sagte der Arzt, als sie ging, „müssen möglichst viel Obst und Fett<br />

essen."<br />

„Woher nehmen ?"<br />

„Das ist nicht meine Sache, ich kann Ihnen als Arzt nur den Rat geben."<br />

Sophie hört mir erregt zu, als ich ihr das erzähle. Dann nimmt sie ein halbes Brot aus dem Spind,<br />

wickelt es in ein nasses Tuch ein und meint: „Nimm der Kleinen das morgen mit, wir haben ja noch<br />

vier Brote."<br />

Ich nicke, kann aber nicht umhin zu erwidern: „Gewiss, auf das halbe Brot kommt es auch nicht mehr<br />

an, aber die andern hungern genauso. Selbst wenn wir den letzten Bissen hingeben, nützt das nichts."<br />

Sophie legt das Brot auf den Tisch, setzt sich und sagt: „Dass die Menschen sich das alles gefallen<br />

lassen ?1"<br />

„Sie werden durch Angst und Hunger in immer größere Angst und zu noch größerem Hunger<br />

gezwungen, und die Rebellen werden ins Feld geschickt."<br />

Sophie schweigt.<br />

Meister Horn hält mir einen langen Vortrag über meine hohen Preise.<br />

„Was Janke auf seine Zettel schreibt, ist Betrug; er ist nur auf sich bedacht und täuscht etwas vor.<br />

Wenn es nur darauf ankommt, billige Preise anzuschreiben, kann ich das vielleicht besser als Janke.<br />

Aber die unbesetzten Bänke, die halbfertige herumliegende Arbeit ? Die Lohnstunden jeder<br />

neuanfangenden Dreherin?"<br />

„An den Preisen können wir nichts ändern, Betzoldt, die werden uns von oben vorgeschrieben, weil<br />

der Akkordsatz schon erreicht worden ist."<br />

„Durch Schiebung! Auf die eine Arbeit werden die Stunden geschoben, auf die andere der Akkord."<br />

„Da haben die Weiber selbst schuld."<br />

„Dann ist es ja überflüssig, noch Preise anzugeben? Ich bitte darum, als Einrichter abgelöst zu werden.<br />

Geben Sie mir eine Spitzenbank im Maschinen- oder Werkzeugbau!"<br />

Meister Horn überlegt und meint dann: „Werde sehen, ob ich Ersatz für Sie finde."<br />

Er gibt meinem Wunsch nach, weil er Hohenstein ein paarmal mit mir sprechen sah; wittert in mir ein<br />

untergeschobenes Kind und will es mit meinem ihm unbekannten Gönner nicht verderben.<br />

Ich bin nun mit Versuchsarbeiten beschäftigt, bekomme meine Stunden nach dem geltenden<br />

Akkordsatz bezahlt —<br />

aber unser Brotvorrat ist aufgebraucht; wir haben sogar immer schon das Brot der laufenden Woche<br />

auf die Karte für die nächste Woche. Wir hungern uns durch die Tage und Wochen. Einer verbirgt<br />

seine Qualen tapfer vor dem andern, schiebt ihm manchmal von dem seinen noch einen Bissen zu. Wir<br />

versuchen einander zu täuschen und wissen doch, wie der andere denkt. Wir belächeln — jeder für<br />

sich — unsere Komödie, bis es wieder über uns kommt, jeder für sich von seinen Qualen gepackt<br />

wird, wenn er den andern ansieht.<br />

Ein Tag verläuft wie der andere.<br />

Drei „Paar" Schnitten kann Sophie mir mitgeben, dabei setzt sie noch von ihrem Brot zu. Sie sind mit<br />

„Käse" bestrichen, man merkt das an dem Gestank. Oder mit Tomatenbrei oder mit Marmelade. Um<br />

sechs Uhr verlasse ich die Wohnung. Um sieben Uhr beginnt die Arbeit. Eine Scheibe, so groß wie<br />

eine Kinderhand, dünn wie Pappe, ist das erste „Frühstück". Eine Buchenlaubzigarette nach der<br />

schwarzen Zichorienbrühe beschließt die Mahlzeit. Aber Schlaf macht nicht satt. Nach einer Stunde<br />

Weg und Fahrt beginnt die Überlegung, ob man nicht ein „Paar" Brote vorweg isst, zum Frühstück nur<br />

ein halbes „Paar".<br />

Ich esse nicht nur ein „Paar". Das Brot im Werkzeugschrank übt eine unwiderstehliche<br />

Anziehungskraft aus, nicht nur auf mich. Wir sitzen mit sechs Mann bei unserm Frühstück, fast keiner<br />

hat noch etwas zu essen. Wir sitzen in der Mittagspause bei unserm „Kaffee" und rauchen. Man tröstet<br />

sich; um einhalb fünf Uhr ist Feierabend. Dann noch eine Stunde Weg. Der Nachmittag wird noch<br />

zweimal unterbrochen durch je eine Zigarette. Sind also alles ganz kurze Pausen von eineinhalb bis<br />

zwei Stunden. Dann gibt es am Abend immer eine winzige Scheibe Brot vor dem Essen. Die ganze<br />

Zeit- und Pausenberechnung ist eine einzige Spekulation, um sich über einen langen Arbeitstag<br />

hinwegzutäuschen bis zu dem Augenblick, in dem ich die Tür des Zimmers öffne und die<br />

heißbegehrte, trockene Schnitte Brot schnappe.<br />

Sophie muss unbedingt wieder ins reine kommen, sonst hat sie eine Woche kein Brot, bevor es die<br />

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