Adam Scharrer – Vaterlandslose Gesellen (1930) - linke-buecher.net
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dann wieder zusammen. Ihr schmerzender Rücken fällt gegen die Wand.<br />
„Was ist dir, Sophl?"<br />
„Lütting — diesmal, glaube ich, muss ich sterben!" Ihre Arme hängen herab, ihr Kopf sinkt vornüber,<br />
ihre trüben Augen bohren sich in ihren geschwollenen Leib.<br />
Und immer wieder dasselbe Lied: „Was redest du, Sophie ? — Du machst mich so traurig. Ich bin<br />
doch bei dir!"<br />
Ist irgendwo noch ein Stück Brot, eine Tasse Milch, ein Ei für eine magere Suppe? Nein! — Dann ist<br />
auch der ausgeblutete Körper nicht zu kräftigen, bleiben als Antwort auf den Schrei leere Worte. Was<br />
ist da schlimmer: einer verhungernden Mutter „Vernunft" zu predigen, oder selbst Schluss zu machen?<br />
Ob sie sich das überlegt? Sie sagt nichts, blickt wieder zur Seite, wie: Quäl dich doch nicht. Weißt ja<br />
selbst, was los ist. Lass mich doch. Ist schon gut!<br />
Dieser Blick wirft mich zu Boden, das ausgepumpte Hirn kapituliert.<br />
Das Grauen huscht durch die kalte Stube. Die altmodische kleine Wanduhr perpendikelt geschäftig die<br />
Minuten ab. — Ihre Zeit ist nicht unsere Zeit. Rücksichtslos zehrt das Kind am Mutterleib. Sophie<br />
steht seufzend auf, wischt sich über die feuchtnasse Stirn, torkelt auf mich zu, schüttelt mich von<br />
hinten:<br />
„Lütting, du!"<br />
Weiter nichts. Was soll sie auch sagen ? Sie ist zu ehrlich — ehrlicher vielleicht als ich.<br />
Ich gehe zu den Sitzungen, komme zurück, oft recht leer. Die Kräfte, die gegen den Strom<br />
schwimmen, sind zu vereinzelt, konstatieren immer wieder den alten Stand der Dinge. Alle möglichen<br />
Rezepte tauchen auf: „Lass sie verrecken!" sagt einer, und kommt nicht mehr.<br />
Andere sind bei einer Einbrecherkolonne. Wieder andere leben nur noch von der Entrüstung über das<br />
Blutvergießen, ihre Energien lösen sich auf in Hysterie. Die letzten packt der tierische<br />
Selbsterhaltungstrieb. Sie schuften Tag und Nacht, sind ununterbrochen auf der Jagd nach dem<br />
Fressen. Wollen sich auf diese Art über die große Zeit retten.<br />
Abenteurer tauchen auf, Spitzel lauern überall.<br />
Die Massen der Arbeiter bleiben stumm, nur in den Tiefen treibt die Strömung, gelegentlich ein<br />
Ausbruch in den Versammlungen, aber nichts organisatorisch Greifbares, nur immer ein Echo.<br />
Und doch immer wieder dieses Echo. Es fehlt der Anstoß — nur der Anstoß!<br />
Ich grüble, was ich ohne Sophie beginnen würde.<br />
Ich werde provozieren, in Versammlungen alles, alles sagen, werde ihnen zum Tanz aufspielen, und<br />
dann: — Krach! Dann lass sie machen, was sie wollen. Ja, das werde ich tun. Das müsste jeder tun!<br />
Aber ich kann das nicht, wegen Sophie. Wenn sie stirbt, .. . dann!<br />
Soll sie deswegen sterben? — Oder soll ich, trotz ihr, meinen Weg gehen, fort von ihr ?<br />
Ich komme wieder von der Arbeit, aus dem vollgepfropften Zug, gehe hungrig durch die Straßen,<br />
allein, zu ihr.<br />
Sie lächelt, hat Kartoffeln bekommen, und Gustav schickte etwas Butter. Und Säuglingswäsche zeigt<br />
sie mir, von Frau Neumann, der Kartoffelfrau, in blaue Bändchen gefasst, und sagt: „Ich freue mich<br />
so!"<br />
Und ich habe das Bild vor mir: tot, kalt, Blumen. Ich erschrecke.<br />
„Komm gleich wieder, muss rasch gehen." Ich nehme die Toilettenschlüssel und lasse mein fieberndes<br />
Hirn verhämmern, komme zurück und bin doppelt zärtlich. Sie weiß ja nicht, warum.<br />
Es ist Weihnachtsabend, Sophie kann kaum mehr die Treppen gehen. Ich hole den kleinen Kuchen<br />
vom Bäcker — aus grammweise erspartem Mehl, die Marmelade — „extra Qualität" — zum Fest, das<br />
Näpfchen Pferdeschmalz, das man für Sophie zurückstellte. Sie hat auch schon „Verbindungen".<br />
Als sie mir mein Geschenk überreicht, zwanzig Zigaretten, strahlt sie.<br />
Was soll ich ihr schenken ?<br />
Sie beruhigt mich: „Lass nur Lütting — dich kleidet das gar nicht. Gibst mir ja alles, alles, was du<br />
hast", und küsst mich, wird übermütig: „Schenk dir ja noch was Schöneres, freust du dich ?" Sie steht<br />
vor mir, durchglutet von Mutterglück, unsere Körper berühren sich. Sie nimmt meine Hand, führt sie<br />
an ihren Leib und sagt: „Merkst du, wie sich das Kind bewegt?"<br />
Ich tue nichts und sage nichts — und sie erwartet nichts. Sie streichelt mir — wie so oft — über den<br />
Kopf— und schneidet den Kuchen an.<br />
Eine Spannung vibriert in mir, in allen Genossen, der Blick ist auf die Januartage gerichtet. Die erste<br />
große politische Kraftprobe steht bevor: Massenstreik der Munitionsarbeiter.<br />
Ob es gelingt, durch einen kühnen Vorstoß die wirbelnde Strömung zu erfassen? Wuchtend liegt der<br />
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