Adam Scharrer – Vaterlandslose Gesellen (1930) - linke-buecher.net
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Lieferanten — „am Sonnabend brachte, kostete sechzig Mark. Das ist doch einfach toll! Für guten<br />
Holländer muss man bis fünfzehn Mark pro Pfund bezahlen. Sind die Sachen in Warschau auch so<br />
teuer ?"<br />
Wir setzen uns zu Tisch. Die Gans ist schon aufgegessen.<br />
„Wissen Sie, mit fünf Menschen", entschuldigt sich Madame. Wir müssen uns mit Butter, Käse,<br />
Wurst, mit der kalten Platte „begnügen". „Hinterher trinken wir noch eine Tasse Kaffee", sagt<br />
Madame.<br />
Ich esse! Der Käse wird klein und kleiner, das halbe Brot ist schon verschnitten, die Wurst wird immer<br />
hohler, bald liegt nur noch die Pelle da. Ich bin gar nicht so hungrig — ich esse aus Protest! Vielleicht<br />
können sich die Leutchen keinen hungrigen Menschen vorstellen, denke ich und pelle mir seelenruhig<br />
noch zwei Eier ab, obwohl mich Sophie ganz erschrocken ansieht. Als Madame in die Küche geht, um<br />
neues Brot zu holen, flüstert Sophie: „Lütting, du kannst doch gar nicht so hungrig sein?"<br />
„Doch! Ich habe großen Hunger. Ich kann dir doch das bisschen Brot, das wir haben, nicht aufessen.<br />
Halt dich ran, das kostet hier nichts!"<br />
Madame bringt noch Brot. Ich schneide mir noch eine kräftige Schnitte. Madame ist ganz erstaunt und<br />
sagt: „Hat's Ihnen tüchtig geschmeckt, wird wohl draußen auch schon knapp ?" „Ja — ich bin in den<br />
letzten Jahren nie satt geworden. Wir hungern nicht, wir verhungern!"<br />
Madame schaut mich gutmütig an und erwidert: „Ist nicht möglich, wo bleibt denn das ganze Zeug?"<br />
Dann, zu ihrer Tochter gewandt: „Da könnt ihr sehen!" Was wohl heißen soll: Und da seid ihr<br />
Gesellschaft immer noch nicht zufrieden. Ihr müsstet eure Mutter eigentlich auf den Händen tragen,<br />
die so für euch sorgt. Undankbare Geschöpfe.<br />
Die Tochter bläst den Qualm ihrer Zigarette durch die beringten Finger und wirft den Kopf etwas zur<br />
Seite. Alte Singuhr! — mag sie denken.<br />
Sophie ist in der Küche, bei dem Dienstmädchen, ich weiß nicht, ob nur aus Protest gegen mein<br />
Benehmen. Der Leutnant setzt sich zu Tisch. Herr Göricke rückt auch heran und verteilt Zigarren.<br />
Frau Hohenstein sieht auf ihre Armbanduhr und sagt: „Friedrich, wir müssen aufbrechen, rufe<br />
rechtzeitig nach dem Wagen!" Sie singt irgendwo in einem Theater, ich bin nicht neugierig, wo.<br />
Friedrich jedoch bleibt noch ein wenig.<br />
Mein Bericht von der Ostfront scheint ihn zu interessieren. Er schüttelt öfter den Kopf, nickt dann<br />
wieder, als wolle er zu verstehen geben: Vorbei! „Was sind Sie von Beruf?" fragt er dann. „Dreher."<br />
„Wollen Sie reklamiert werden ?" Ich lache. „Das ist doch wohl nicht möglich." „Ich sage Ihnen, dass<br />
Sie binnen vierzehn Tagen zurück sind, wenn wir Sie persönlich vom Regiment anfordern. Nur dürfen<br />
Sie nichts von einer Unterredung mit mir verlauten lassen. Ich bin im technischen Büro bei den<br />
Rumpler-Werken in Berlin. Sollte man Sie fragen, ob Sie dort Bekannte haben, sagen Sie, dass es<br />
wohl möglich sei, dass Arbeitskollegen Ihre Adresse wussten. — Abgemacht ?"<br />
Er hält mir die Hand hin, ehe er geht, und ich schlage ein. Ungläubig noch, aber der Leutnant kommt<br />
mir gar nicht vor wie ein Leutnant, ich kann mir nicht denken, dass er nur aufschneiden will. Sophie<br />
steht ganz aufgelöst da. Als wir gehen, sagt sie: „Lütting, kannst du dir das denken?" Ich kann mir das<br />
zwar nicht gut vorstellen, aber ich bin entschlossen, meinen Urlaub nicht eigenmächtig zu verlängern,<br />
um nicht selbst einen Grund zu schaffen, meinen eingereichten Arbeitsurlaub unmöglich zu machen.<br />
XX<br />
In einer Laube, weit draußen über Uhlenhorst hin, versammeln sich am Abend vor meiner Abreise so<br />
an dreißig Männer, Frauen, auch Jugend. In Soldatenzeug und in Zivil kommen sie, mit ernsten<br />
Gesichtern, einer mit einem Holzfuß, einem andern hängt der Ärmel über den Armstummel. Zur<br />
Straße hin ist die Laube mit Posten gedeckt, von hundert Metern zu hundert Metern.<br />
Ein Genosse der „Arbeitsgemeinschaft" spricht.<br />
„Genossen!" sagt er, „jetzt müssen wir einig sein. Jetzt müssen wir alle Gegensätze zurückstellen und<br />
für den Frieden kämpfen. Wir haben jetzt eine gute Position. Die deutschen Grenzen sind frei vom<br />
Feinde, deshalb haben unsere Genossen auch im vorigen Jahr die Kriegskredite verweigert. Jetzt darf<br />
die Opposition nicht zersplittert werden, dann werden wir die Massen auf unsere Seite bringen und die<br />
Scheidemänner entlarven. Die Arbeitsgemeinschaft ist willens, euch die Hand zu reichen."<br />
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