27.02.2013 Aufrufe

Adam Scharrer – Vaterlandslose Gesellen (1930) - linke-buecher.net

Adam Scharrer – Vaterlandslose Gesellen (1930) - linke-buecher.net

Adam Scharrer – Vaterlandslose Gesellen (1930) - linke-buecher.net

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

Die Kleinbahn torkelt los. Gustav winkt noch mit seiner verschrumpelten Fahrermütze wie ein alter<br />

Bauer und stampft dann davon; langsam, gebeugt geht er den Berg zurück, gar nicht wie ein Soldat.<br />

Ich stehe müde, abgespannt neben meinem Sack auf dem offenen Wagen. Wer schläft wohl die Nacht<br />

vor der Fahrt auf Urlaub ? Ein kalter Regenschauer nach dem andern geht nieder. Ich breite meine<br />

Zeltbahn über meinen Brotsack, setze mich darauf und denke: Jede Stunde bringt dich jetzt der Heimat<br />

näher; in zwei Tagen bist du da. Was innerhalb der zwei Tage ist, muss ertragen werden; Hauptsache,<br />

du kommst — wenn auch halbtot — hin.<br />

In Swatajawolja muss ich auf eine andere Kleinbahn umsteigen. Ich nehme meinen Brotsack auf die<br />

Schultern und laufe im Trab über die Geleise. Die Bahn wartet auf die Urlauber, aber nur, bis der<br />

letzte an irgendeinem Wagen hängt. Aufspringen müssen sie im Fahren. Ich muss also, da ich erst<br />

meinen Sack hinaufbugsieren muss, soviel schneller laufen als die andern, und bin, als ich glücklich<br />

auf dem Wagen sitze, dem Umfallen nahe. Aber ich habe meinen Sack gerettet — und fahre! In<br />

Iwatzewitzi muss ich den Fernzug abwarten. Ich liege in jenem Schuppen, den ich von meiner Fahrt<br />

nach Warschau her kenne. Ich weiß, dass fünf Minuten Schlaf genügen, dass mir mein Sack mit dem<br />

Brot geklaut wird. Ich werde mich schwer hüten!<br />

So liege ich, den Sack neben mir wie eine Liebste, und warte die Stunden der Nacht ab. Ich weiß nicht,<br />

wie ich in die Bahn kommen werde.<br />

Ich sehe aber, wie sie schon um vier Uhr morgens — eine Stunde vor Eintreffen des Zuges —<br />

antreten, und schleppe meinen Sack ebenfalls rechtzeitig an die Bahn. Ich habe so eine geschlagene<br />

Stunde Zeit zu überlegen, wie ich meinen Sack elegant in ein Kupee bugsiere. Hoffentlich komme ich<br />

nicht gerade zwischen zwei Wagen zu stehen ?<br />

Der Zug kommt, die Tür wird aufgerissen — da fliegt mein Sack auch schon, hinein, auf Köpfe, Knie,<br />

Bäuche.<br />

Nun kann nichts mehr schief gehen! Wenn auch zwanzig Stunden Fahrt nach zwei schlaflosen<br />

Nächten eine starke Nervenprobe sein mögen: am Ende steht Sophie vor siebzehn<br />

Kommissbroten, einem großen Käse, zwei Pfund Speck und fünf Pfund Butter. Das ist schon einige<br />

Unannehmlichkeiten wert.<br />

Der Zug rast durch Warschau, durch Polen. Ich sitze rittlings auf meinem Sack. Mantel, Zeltbahn,<br />

Tornister liegen darauf, dass niemand durch den Inhalt gereizt wird. Alle Augenblicke schrecke ich<br />

auf, kämpfe schon verzweifelt gegen den Schlaf.<br />

Aber wir fahren schon über die deutsche Grenze. Feldarbeiter winken, Kinder grüßen. — Nur die<br />

Posten an den Brücken demonstrieren die „Größe" der Zeit. — Doch daran denkt jetzt niemand. Sie<br />

erheben sich vom Fußboden, packen, einige steigen schon aus.<br />

Es ist abends, in der zehnten Stunde, als wir in Berlin eintreffen. Der Zug nach Hamburg geht um elf.<br />

Ich gehe nach einem verkehrten Bahnsteig — dem der Stadtbahnzüge —, erkundige mich noch einmal<br />

nach dem Fernbahnsteig, bleibe aber auf der Bank sitzen. Ich bin zu müde, um mich noch einmal zu<br />

erheben und meinen Sack überzunehmen.<br />

Ich weiß nur noch, wie mir mit einem Male alles vor den Augen tanzt: die Menschen, die Züge, die<br />

Bahnhofshalle, einen närrischen, höhnischen Tanz, tausend Grimassen mich anstaunen, als wollten sie<br />

mich foppen.<br />

Als ich unweit vom Schlesischen Bahnhof in einer Station des „Roten Kreuz" erwache, merke ich<br />

sofort, dass ich meinen Sack nicht mehr habe. Ich sehe um mich. Ich liege ganz allein auf einem<br />

Strohsack an der Erde. Soll ich schreien ?<br />

Da kommt eine Schwester auf mich zu und lächelt: „Sie suchen wohl Ihren Sack?"<br />

„Ja." Ich fühle, wie mir das Herz stehen bleibt.<br />

Aber sie beruhigt mich, geht mit mir in ihre Bude, zeigt mir meinen Sack und gibt mir „Kaffee".<br />

Ich muss mich erst setzen, muss mich zusammenreißen. Dann nehme ich ein Paket Butter, schneide es<br />

durch und gebe ihr die Hälfte, und dazu ein Brot. Sie nimmt es, bedankt sich und sagt: „Sie haben<br />

Glück gehabt. Sie fielen von der Bank, sprangen dann wieder auf, wollten Ihren Sack nehmen und<br />

torkelten. Dann fielen Sie mit Ihrem Sack über den Bahnsteig, auf das Gleis.<br />

An Ihren Papieren sind Sie erkannt und hierhergebracht worden. Hier liegen Sie und schlafen von<br />

gestern abend elf Uhr bis jetzt."<br />

Ich sehe nach der Uhr, es ist acht Uhr abends. Ich habe also ununterbrochen zwanzig Stunden<br />

geschlafen. Zehn Tage habe ich Urlaub, drei sind schon um, ehe ich bei Sophie bin.<br />

Sophie steht während dieser Zeit in Hamburg am Bahnhof und sieht mich nicht unter den Urlaubern,<br />

die aus den Zügen steigen. Sie steht die ganze Nacht, den ganzen Tag, und geht traurig nach Hause. So<br />

74

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!