Adam Scharrer – Vaterlandslose Gesellen (1930) - linke-buecher.net
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paar Eier für den kranken Vater. Für den Bleß öfter ein Gericht Knochen oder den Rest eines<br />
Mittagessens. Bleß kannte auch seine Kundschaft und ging nicht früher, bis auch er bedient war. Das<br />
wussten die Pfarrersköchin, die Bürgermeistersfrau, die Tochter der Wirtin ganz genau. Sie wussten<br />
auch, dass man den „Brothans" nicht vergessen darf, wenn Schlachtfest war, und dass er in diesem<br />
Fall kommen wird, trotz des denkbar schlechtesten Wetters.<br />
Wenn ich Bleß auf dem Berg ausspannte, der sich vor unserem Häuschen erhob, lief er, laut bellend,<br />
voraus, auf meinen wartenden Vater zu, der sich fest auf seinen Stock stützen musste, wenn er nicht<br />
umgeworfen werden wollte. — Es wurde schon immer schlimmer mit ihm.<br />
So schlimm, dass der Arzt darauf drang, dass er ins Krankenhaus überführt wurde, weil für sein<br />
schweres Nieren- und Blasenleiden sachgemäße Pflege und Behandlung notwendig wurde.<br />
Das war nicht weit; eine halbe Stunde nur, aber nun erst begriff ich langsam das Furchtbare meines<br />
Schicksals. Niemand konnte mehr das Brot einpacken, die Ziegen, die Gänse und Hühner besorgen,<br />
während ich in der Schule war. Die kleine Wohnung war kalt und leer, und Bleß schaute<br />
verständnislos drein, als das Wägelchen wieder im Schuppen verschwand. Ich kam in einigen Monaten<br />
aus der Schule, bis dahin blieb alles beim alten.<br />
Aber mein Vater rech<strong>net</strong>e selbst nicht mehr mit einer Besserung, und im Falle seines Todes verfiel die<br />
Wohnung dem Staat für den kommenden königlichen Straßenwärter, der bis dahin in Aushilfsstellung<br />
war. So wurden die Hühner, die Gänse, die Ziegen verkauft. Den Hausrat holte ein Onkel, der im<br />
nahen Städtchen wohnte. Ich kam in die Lehre. — Als der neue königliche Straßenwärter schon<br />
eingezogen war, kam öfter ein großer schwarzer, zottiger Hund über die Felder gejagt, pflanzte sich<br />
vor dem Häuschen auf und bellte, dass es in allen Wäldern widerhallte. Das war Bleß; er suchte mich.<br />
Er konnte sich an seine neue Heimat nicht gewöhnen.<br />
Ich hatte meine Mutter langsam sterben, besser gesagt, absterben sehen und wusste auch, dass die<br />
immer durchsichtiger werdende Blässe meines Vaters das Zeichen des nahen Todes war. Sein Bart war<br />
fast weiß geworden. Seine Finger wurden immer länger und lagen auf der weißen Decke wie leblos.<br />
Einige hundert Mark hatte er aus dem Erlös unseres Hausrats noch gerettet für mich; das bekam mein<br />
Lehrmeister dafür, dass er mich von morgens sechs bis abends neun Uhr schwer arbeiten ließ.<br />
Ich habe es ertragen, habe gelernt, dieses Leben ohne Klagen auf mich zu nehmen, wenn es nicht<br />
anders sein kann; ich habe es früh, vielleicht zu früh von meinem Vater gelernt. Ich klagte nicht, so<br />
wenig wie mein Vater über seine Last klagte. Ich sagte ihm stets, dass es mir gefiel.<br />
„Bleibe gesund, halt die Augen offen, Hans 1" Er war an diesem Tage schon sehr schwach. Als ich<br />
wiederkam, war er tot.<br />
Das ist nun dreizehn Jahre her. Was dann kam, war der Kampf gegen die Widerwärtigkeiten des<br />
proletarischen Lebens. Ich habe schwer gekämpft. Ich bin auch dem Schicksal meiner Eltern, an einer<br />
einsamen Ecke an der Landstraße langsam hinsterben zu müssen, entronnen, aber nicht dem Schicksal,<br />
in Obdachlosenasylen mit anderen Schicksalsgenossen wie Vieh zusammengetrieben zu werden. Ich<br />
bin nicht dem Schicksal entronnen, in Frost und Schnee heimatlos durch das Vaterland zu wandern,<br />
wenn jede Katze, jeder Hund seine warme Ecke, seinen Napf voll Fressen hat. Ich bin nicht dem<br />
Schicksal entronnen, im Arbeitshaus dafür zu büßen, dass ich „rückfällig" wurde, weil ein Vagabund<br />
seinen Hunger nicht stillen kann mit einer „Verwarnung". Ich bin nicht dem Schicksal entronnen,<br />
gebrandmarkt zu werden, weil ich mit Gleichgesinnten dafür kämpfte, dass die Rechtlosen dieser Erde<br />
am Ersten Mai ihre Stimme zu einem Schrei über die ganze Erde vereinigen; musste öfter als einmal<br />
Freunde und Genossen verlassen, wenn der Fluch der schwarzen Liste mich traf.<br />
Ich sah in dem Zusammenschluss der Rechtlosen den großen Versuch, die Ohnmacht des geknechteten<br />
Individuums zu durchbrechen, das nichts zu verlieren hat als den Fluch seiner Ketten, die man<br />
verlogenerweise „Recht" nennt. Ich glaubte, dass dieser Zusammenschluß der unterdrückten<br />
Proletarier stark genug sei, den Panzer des Chauvinismus zu durchlöchern, der die Menschheit in den<br />
Abgrund reißt. — Ich habe mich geirrt! Die Sozialdemokratie und ihre Organisationen waren noch<br />
keine Gemeinschaft, die diesem Anprall standhielten. Der erste Stoß schon riss den trügerischen<br />
Schleier fort.<br />
Hans Betzoldt, der du immer noch träumst von Vater und Mutter: lass diese Träumereien. Du siehst<br />
die Sonne am Waldabhang spielen, siehst die Ziegen im Straßengraben fressen, siehst die Gänse an der<br />
Brücke unter den Erlen schwimmen, die Hühner im Kornfeld — jetzt musst du sehen, wie du dich<br />
weiter durchschlägst, ohne dass es dich Kopf und Kragen kostet. Das ist das Wichtigste.<br />
. . . Ich sehe mich um. Es wurde schon zweimal geweckt. Ich bin einer der letzten im Saal.<br />
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