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Adam Scharrer – Vaterlandslose Gesellen (1930) - linke-buecher.net

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ereits jeden Schrecken eingebüßt. Ich mache mich aber damit vertraut, dass zumindest einige Tage<br />

„Dicken" abfallen werden. Aber nichts dergleichen folgt.<br />

Eine Woche später bin ich als garnisondienstfähig zum Ersatzbataillon entlassen.<br />

Der erste Gedanke ist: Jetzt musst du fort! Ich schreibe sofort an Klaus. Ein Genosse, der in Altona<br />

arbeitet, empfiehlt mich. Dreher sind knapp. Ich unterschreibe, dass ich keinerlei Ansprüche an das<br />

Regiment zu stellen habe und werde für Heeresarbeit beurlaubt.<br />

Wir werden nun nicht mehr gehetzt von dem Gedanken der unvermeidlichen Trennung oder der<br />

fiebernden Erwartung, nur irgendwo oder irgendwann eine Stunde zusammen sein zu können. Wir<br />

können uns ungezwungen gehören, können uns einrichten. Sophie wird sich gewiss freuen, Klaus<br />

braucht Hilfe; Anna, Martha, ganz schön wird das werden.<br />

Sophie erwartet mich, schaut mir neugierig auf die Füße, dann ins Gesicht, dann nimmt sie meinen<br />

Kopf in beide Hände und drückt mein Gesicht an ihre Brust.<br />

„Lütting!!"<br />

Sie fasst mich unter, will mit mir den Bahnsteig verlassen. Ich nehme meinen Arm aus dem ihren. „Ich<br />

möchte lieber allein gehen." Die ganze Tragödie des proletarischen Krüppels schreit in mir auf. Nein,<br />

dann schon lieber tot!<br />

Sophie hat Geduld, wie immer, schaut mich bittend an, und ich gebe ihr, wie zur Entschuldigung,<br />

meinen Koffer. Ich habe mir vorgenommen, lieb zu ihr zu sein, alles mit ihr zu besprechen. Sie ist mir<br />

aber wieder so fremd, sie bewegt sich so natürlich, wie „zu Hause". Ich habe kein „Zuhause".<br />

Mein Zivilanzug ist mir viel zu groß. Ich kann ihn gar nicht tragen.<br />

„Es ist ja kein Wunder, Lütting, hast ja mindestens fünfundzwanzig Pfund abgenommen", sagt Sophie,<br />

als hätte sie ohnehin damit gerech<strong>net</strong>. Ich versuche meine Schuhe auf meine immer noch bandagierten<br />

Füße zu ziehen, aber ich bekomme sie nicht darüber. Ich kann, selbst ohne Bandagen, nicht in ihnen<br />

gehen, meine Füße sind noch geschwollen und sehr empfindlich.<br />

„Wir kaufen ein Paar", sagt Sophie.<br />

Wir schlafen in einem Bett, aber wir finden beide keinen Schlaf. Ich schlage um mich, phantasiere,<br />

schreie. Sophie geht morgens übernächtigt zur Arbeit.<br />

Sophie kauft ein zweites Bett.<br />

Ich gehe mit meinen neuen Schuhen zur Arbeit, trage aber während der Arbeit die alten Militärschuhe.<br />

Nach acht Tagen bekomme ich eine Aufforderung, sämtliche auf dem von mir unterschriebenen<br />

Verzeichnis aufgeführten Sachen bei meinem zuständigen Bezirkskommando abzuliefern. Ich spüre so<br />

etwas wie Ekel im Halse, als ich diese Aufforderung lese.<br />

Ich schicke die Lumpen ab und kaufe mir von meinem ersten Lohn ein Paar Arbeitsstiefel.<br />

Wir gehen sonntags spazieren. Mein Anzug hängt mir um die Knochen, als hätte ich ihn irgendwo<br />

geschenkt bekommen. Ich bin niedergeschlagen. Mich ärgert die gedankenlose Wurstigkeit dieser.<br />

Welt. Man tanzt, musiziert. „Hoch soll die Flagge wehen, die Flagge Schwarz-Weiß-Rot" wimmert es<br />

aus allen Lokalen. Die Kriegskrüppel humpeln und hocken schon überall herum. Wir gehen in Altona<br />

an einem großen Lazarett vorbei. Sie schauen aus den Fenstern, sitzen im Garten. Wieviel solcher<br />

Lazarette gibt es wohl in Deutschland und außerhalb Deutschlands ? Sophie möchte mich so gerne<br />

froh wissen. Sie freut sich so, als ich meinen Lohn bringe. „Nächste Woche kaufen wir einen Anzug",<br />

sagt sie. Ich wehre ab, sie bittet mich aber darum.<br />

Wir kaufen einen Anzug.<br />

Sie ist so lieb, ich habe vieles an ihr gutzumachen.<br />

Ich drehe die Kupferringe an Granatkörpern ab. Stück für Stück fünf Pfennig. Eine Fünfzehn-<br />

Zentimeter-Granate wiegt einen halben Zentner. Die großen — einundzwanzig Zentimeter — über<br />

einen Zentner. Ein Arbeiter hebt sie in die Bank und aus der Bank. Er ist zweiundsiebzig Jahre alt und<br />

freut sich, dass er soviel Geld verdient. Er hat nicht damit gerech<strong>net</strong>, dass er jemals wieder Arbeit<br />

bekommt. Wenn es nach ihm geht, dann drehen wir, so lange er lebt, Granaten.<br />

Der Betrieb ist gut „gesiebt". Mein Nachbar hat einen steifen Fuß. Er ging freiwillig hinaus. Er braucht<br />

nicht mehr damit zu rechnen, dass sie ihn holen. Er zeigt sein Eisernes Kreuz, ist jung und meistens<br />

besoffen. Die Frauen beherrschen den Betrieb. Immer mehr kommen und werden angelernt.<br />

Skeptisch und höhnisch blicken die qualifizierten Arbeiter auf die billige Konkurrenz. „Blödsinn",<br />

sagen sie. „Was ist mit den Weibern schon anzufangen."<br />

Sie irren. Die Arbeitsteilung setzt ein. Immer mehr Spezialmaschinen werden aufgestellt. Die Frauen<br />

arbeiten sich ein, sie eignen sich für jede Präzisionsarbeit. Sie sind billiger, drängen mehr Männer in<br />

den Schützengraben. Mancher, der sich so sicher, so unentbehrlich wähnte, während die andern<br />

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