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Adam Scharrer – Vaterlandslose Gesellen (1930) - linke-buecher.net

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Ich kann sie nicht ansehen, denn ich lüge. Sie kann nicht miterleben, was ich erlebe, und ich kann ihr<br />

das nicht mitteilen. Sie hat das „Gott strafe England!" nicht beachtet, nicht erwähnt und kennt nur eine<br />

Sorge, dass ich mir den Urlaub in acht Tagen nicht verscherze. Sie ist hilfsbereit, ein wertvoller<br />

Mensch, blühte auf vor Freude, als sie mich sah. Aber sie weiß sich rasch mit Tatsachen abzufinden.<br />

Sie ist Frau, ganz Frau, selbstlos bis zum äußersten. Aber sie erlebt nicht mit mir die tausend Qualen<br />

der Zerfleischung. Sie sieht nicht die Doppelrolle, die ich spiele. Sie spricht mehr zu dem Soldaten als<br />

zu dem, der in diesen Lumpen steckt. Mir ist das alles so gleichgültig, so unsagbar banal. Ich denke an<br />

keinen Urlaub, ich denke nicht an die Zeit, da wir verladen werden sollen an die Front, mir macht<br />

keine Sorgen, was nach der „Achtungsverletzung" am Nachmittag folgen wird. Ich denke an Klaus<br />

und Alfred. Ich möchte den Brief lesen, er ist jedoch sehr lang; ich kann es an der Einleitung sehen. Es<br />

ist politisches Material. Die Uhr ist nach sieben. Um halb acht Uhr fährt Sophie. „Wollen wir gehen ?"<br />

fragt sie nun.<br />

Ich fühle, dass eine Welt zwischen uns steht und fühle doch den Hunger nach ihr. Ich fühle, dass ich<br />

ihr alles zerstört habe, die Freude, mir Freude zu bereiten. Ich möchte sie nicht so gehen lassen und<br />

kann doch nicht das erlösende Wort finden. „Wir müssen umkehren", mahnt sie. Wir gehen<br />

nebeneinander. Ich weiß, dass wir in zehn Minuten die Straße erreichen, unter den Menschen<br />

verschwinden, „Vorgesetzte" auf den Gruß warten, dass wir zum Bahnhof kommen werden und<br />

Sophie abfahren muss. Ich werde das Letzte verlieren: das Weib, das für mich lebt, für mich denkt,<br />

sich für mich sorgt, wie ich für sie.<br />

„Kann ich dir noch etwas helfen, Hans ?" Ein letzter Versuch ist das, die Wand zwischen uns<br />

niederzureißen. Eine verzweifelte Bitte.<br />

Ich bleibe stehen und sehe ihr ins Gesicht. Ihr Mund ist so fest geschlossen. Ich höre ihren Atem. Die<br />

Nasenflügel arbeiten. Ihre Arme hängen herab.<br />

„Ich möchte dich nicht verlieren, Sophie. Ich bin dir so dankbar, dass du gekommen bist. Ich bin nur<br />

so übervoll, dass ich mit dir noch nicht darüber sprechen kann. Versuche zu begreifen. Ich werde dir<br />

schreiben."<br />

Sie hört mich regungslos an, aber ihr ernstes Gesicht beginnt zu zerfließen. „Ja, schreib mir, schreib<br />

mir alles, was du denkst, Lütting", sagt sie.<br />

Als der Zug die Halle verlässt, ist es bereits zehn Minuten vor acht Uhr. Ich muss mich beeilen, habe<br />

nur bis acht Uhr Urlaub. Ich will mit einem Male nicht „auffallen". Mir ist es nicht mehr gleichgültig,<br />

ob ich in acht Tagen auf Urlaub fahren kann.<br />

Aber ich hatte mir bereits etwas „eingebrockt". Der beleidigte Unteroffizier achtet fanatisch darauf,<br />

dass die Disziplin nicht vor die Hunde geht, und unser Feldwebel wartet gerade darauf, dass solch<br />

grüne Rekruten den Vorgesetzten auf der Nase herumtanzen. Mittags, als die anderen auf ihren<br />

Pritschen liegen, Briefe schreiben, oder lesen, oder ihre Lumpen flicken, treten wir mit sechs Mann<br />

zum Strafexerzieren an.<br />

In meinem Hirn wälzt sich die Frage, wie es auf Festung sein muss oder im Zuchthaus. Wie lange der<br />

Krieg dauern kann und ob es ratsam ist, hier den Plunder in den Dreck zu schmeißen und mit einer<br />

nicht mißzuverstehenden Bemerkung meine wirkliche Meinung zu äußern.<br />

Der Gefreite führt uns auf den Kasernenhof, lässt uns an der Mauer antreten und sagt: „Hört mal zu!<br />

Wir werden die Stunde schon rumkriegen. Wenn ich euch mal gehörig anbrülle, so deswegen, weil der<br />

Alte kommen kann. Seid also vernünftig!"<br />

Mein Vorsatz liegt wieder im Dreck. Der Ton des Gefreiten übt eine eigenartige Wirkung aus, so<br />

etwas wie Solidarität mit ihm.<br />

Wir kloppen die Stunde ab, am nächsten Tag die zweite, und glauben, die Sache ist erledigt.<br />

Wir sind jedoch nicht zum Vergnügen da. Eine Woche später belegt neuer Ersatz unsere Quartiere.<br />

Wir sind schon „alte Leute" und ziehen in die Kaserne. Als der erste Urlaub gegeben wird, ziehen wir<br />

„Verbrecher" auf Wache. Ich lehne es ab, Einspruch zu erheben. Ich weiß, dass ich in diesem Falle zu<br />

dem Schaden nur noch mehr Schaden und den Spott noch obendrein haben würde.<br />

Als Sophie den Brief erhält, stehe ich schon an der Eisenbahnbrücke und passe auf, dass sie nicht in<br />

die Luft fliegt.<br />

Wir haben scharfe Munition, aber sie wird uns zugezählt. Ich kann mir die Situation gar nicht<br />

vorstellen, dass ich hier auf einen Menschen schießen soll; noch weniger aber, dass irgend jemand auf<br />

den Gedanken kommen könnte, diese Brücke in die Luft zu sprengen. Über sie geht starker Verkehr.<br />

Auf den Telefondrähten landet gelegentlich ein Vogel. Rechts bringen Arbeiter die Ernte aus ihren<br />

Laubengärten ein; einige Hühner suchen die Böschung ab. Sie müssen durch ein Loch aus den Gärten<br />

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