Adam Scharrer – Vaterlandslose Gesellen (1930) - linke-buecher.net
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Abend den Vorschlag, in die Anlagen zu gehen. Im Gewerkschaftshaus essen wir noch Abendbrot.<br />
Auch Sophie ist gekommen.<br />
„Sieh, Anna, es ist grausam, es ist unmenschlich grausam", beginnt Klaus, „aber wenn es uns nicht<br />
erspart bleibt, dann ist es besser so, besser als ein elender Krüppel. Lass Georg ruhen. Du musst<br />
darüber hinwegkommen, darfst nicht lahm werden. Unsere Zeit kommt auch, und wir brauchen dich<br />
noch."<br />
Dieser Klaus weiß mit Phrasen mehr anzufangen als ich — aber in seinem Munde sind diese Worte<br />
eben keine Phrasen. An ihm kann man sich aufrichten, von ihm geht soviel Kraft aus. Er will helfen,<br />
und man fühlt, dass er das will, und glaubt ihm. Wie er bedächtig anfing, zu berichten, dass doch nicht<br />
alles verloren ist, dass sich der Rausch bald legen und die Abrechnung kommen wird, dass man den<br />
Kopf hochhalten müsse, dass das die Pflicht der Genossen sei, die zurückbleiben, dass sie das den<br />
Opfern des Krieges schuldig seien, dann seine Art, sich von anfänglich kameradschaftlicher<br />
Teilnahme in ehrliche Entrüstung hineinzureden: das kann nur Klaus. Und Anna folgt ihm. Ihr starkes<br />
Kinn wird wieder hart. Sie seufzt kräftig, als wolle sie etwas abschütteln, und sagt dann: „Hoffentlich<br />
bin ick noch dorbi, wenn dat mol richtig losgeiht."<br />
Anna hat den schwersten Schlag überstanden, und wir sind froh; was sollten wir ohne Anna machen ?<br />
Aber der Schmerz überfällt sie immer wieder. Ihre Füße scheinen schwerer geworden. Sie schaut<br />
mitunter so über Menschen und Dinge fort, als suche sie eine Stütze.<br />
Dass sie aber am andern Tag so übernervös ist, so zittert, mich anschaut, als erschrecke sie vor mir,<br />
kann ich mir trotzdem nicht erklären. Sie geht in der Stube an mir vorbei, als ertrage sie meine<br />
Gegenwart nicht; ihr Gruß klingt so überflüssig.<br />
Martha kommt rein: „Du möchtest einmal zu Anna in die Küche kommen, Hans!"<br />
Anna steht an den Küchentisch gelehnt, empfängt mich mit ihren guten, stumm auf mich gerichteten<br />
Augen und sagt: „Et is so wiet, Hans!"<br />
Ich lese: „Sie haben sich am......in......mit Militärpapieren einzufinden. Zivilkleidung und Mundvorrat<br />
für einen Tag sind mitzubringen!"<br />
Ich fühle einen Moment, wie mir der feste Halt schwindet. Dann kommt eine sonderbare Sicherheit<br />
über mich.<br />
„Na, also, endlich", sage ich nach längerem Besinnen. „Werden sehen, was wird!"<br />
Ich habe noch drei Tage Zeit. Sophie ist noch nicht „eingefuchst". So richte ich noch zwei Tage ein,<br />
dann schnüre ich meinen Pappkarton und nehme Abschied.<br />
Alfred und Klaus sprechen mit mir: „Halt die Verbindung aufrecht und schreibe." Anna sagt: „Überleg<br />
dir, was du machst, Jung, kommst ja bestimmt auf Urlaub. Wir sehen uns ja noch öfter."<br />
Ich gehe und schlage die Tür zu, ohne mich noch einmal umzusehen. Ihr gläserner Blick und ihr<br />
Lachen, das passt gar nicht zusammen, das tut mir weh.<br />
Vorher nahm ich Abschied in der Fabrik. Martha ist nicht an ihrer Bank. Als sie kommt und mir die<br />
Hand gibt, sehe ich, dass auf ihrem weißen Gesicht, um die Augen, rote Flecke brennen.<br />
„Ein Drehspan", sagt sie. Sie hat etwas gekühlt. „Komm gesund wieder, Hans!" sagt sie dann. Weiter<br />
nichts.<br />
Sophie fragt mich, um welche Zeit ich mich einfinden muss. Ich sage es ihr.<br />
Als ich um dreiviertel neun Uhr in „Kohlhöfen" einbiege, steht Sophie da. Sie ist erst etwas verlegen,<br />
fasst sich dann aber rasch und sagt: „Ich möchte Ihnen doch besonders adieu sagen. Sie haben mir<br />
soviel geholfen. Ich möchte Sie bitten, mir zu schreiben."<br />
„Warten Sie doch noch, es sind ja soviel andere Angehörige mit. Wir können uns bestimmt noch<br />
sehen."<br />
Sie kommt mit nach dem Bahnhof, trägt mir ein Paket, gehört zu mir, wie die anderen „Angehörigen"<br />
zu den anderen „Rekruten".<br />
„Einsteigen!"<br />
Ich geb ihr die Hand und drücke sie.<br />
„Einsteigen!"<br />
Sophie klammert sich an meine Hand, als wolle sie mich nicht fortlassen.<br />
„Einsteigen!"<br />
Als der Zug schon fährt, schaue ich noch einmal zurück, kann sie erst gar nicht finden! Bis ich sie<br />
doch entdecke. Sie muss, als ich sie losließ, ein ganzes Stück zurückgetaumelt sein. Dort steht sie —<br />
an die Mauer gelehnt — und winkt.<br />
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