Deutscher Bundestag Zweiter Zwischenbericht - CDU Deutschlands
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<strong>Deutscher</strong> <strong>Bundestag</strong> – 14. Wahlperiode – 35 – Drucksache 14/7546<br />
Artikel 1 schützt zwar dem Wortlaut nach die Würde „des<br />
Menschen“ und Artikel 2 spricht davon, dass „jeder“ ein<br />
Recht auf Leben hat. Das Bundesverfassungsgericht hat jedoch<br />
entschieden, dass sich der Würde- und Lebensschutz<br />
des Grundgesetzes nicht nur auf den Menschen nach der<br />
Geburt oder auf den selbstständig lebensfähigen „nasciturus“<br />
beschränkt, sondern auch das ungeborene menschliche<br />
Leben umfasst. 177 Unzweifelhaft handelt es sich bei dieser<br />
Kernaussage um einen tragenden Grund der diesbezüglichen<br />
Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes, so<br />
dass sie an der Bindungswirkung des § 31 Bundesverfassungsgerichtsgesetz<br />
(BVerfGG) 178 teilhat. 179<br />
Damit scheidet die oben dargestellte radikale Form der<br />
Position II180 , die in der philosophischen Debatte eine<br />
Rolle spielt, als Entscheidungsoption für den Gesetzgeber<br />
von vornherein aus.<br />
Damit ist jedoch noch nicht die Frage geklärt, inwieweit<br />
und von welchem Zeitpunkt an dem extrakorporal erzeugten<br />
Embryo in vitro Grundrechtsschutz zukommt.<br />
In der rechtlichen und rechtsphilosophischen Literatur<br />
werden zur Frage des Zeitpunktes, ab dem ungeborenem<br />
Leben Grundrechtsschutz zuteil wird, von der Einbeziehung<br />
der befruchteten Eizelle bis zum vollständigen Ausschluss<br />
vorgeburtlicher Lebensformen sehr unterschiedliche<br />
Auffassungen vertreten. Die Verfassungsrechtslehre<br />
geht jedoch nahezu einhellig davon aus, dass der Schutz<br />
des Lebens nach Artikel 2 Abs. 2 GG mit der Verschmelzung<br />
von Ei- und Samenzelle beginnt. 181 Hier wird auch<br />
nicht unterschieden zwischen dem Embryo in vitro und<br />
demjenigen in vivo. Begründet wird dies damit, dass mit<br />
der Vereinigung der beiden haploiden Chromosomensätze<br />
die genetische Identität, Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit<br />
des Menschen und die Potenzialität der Entwicklung<br />
als Mensch gegeben ist und dass aufgrund der Kontinuität<br />
dieser Entwicklung jede andere Zäsur zwischen<br />
der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle und der Geburt<br />
willkürlich erscheint. 182 Dies entspricht auch den<br />
naturwissenschaftlichen Erkenntnissen der modernen<br />
Embryologie. Der Embryo ist vom Zeitpunkt der Kernverschmelzung<br />
an eine von seinem individuellen Genom<br />
gesteuerte funktionelle, sich selbst organisierende und<br />
differenzierende Einheit. 183 Dem widerspricht auch nicht,<br />
dass die embryonalen Zellen in diesem frühen Stadium<br />
noch totipotent sein können, sich also bei Abspaltung<br />
mehrere Embryonen (eineiige Mehrlingsbildung) entwickeln<br />
können. Die Individualität der Embryonen steht<br />
auch hier von der Kernverschmelzung an fest. Wer die in<br />
177 BVerfGE 39, 1 ff., Leitsatz 1; BVerfGE 88, 203 ff., Leitsatz 1.<br />
178 31 Abs. 1 BVerfGG lautet: „Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts<br />
binden die Verfassungsorgane des Bundes und der<br />
Länder sowie alle Gerichte und Behörden.“<br />
179 Sacksofsky 2001, S. 7 mit weiteren Nachweisen.<br />
180 Vgl. Kapitel 2.1.4.2 Position II: Dem menschlichen Embryo kommt<br />
in abgestufter Weise Schutzwürdigkeit zu.<br />
181 Darstellung bei Höfling 2001a, S. 47 bis 50 mit weiteren Nachweisen.<br />
182 Höfling, 2001a, S. 50 f. mit weiteren Nachweisen; Sacksofsky 2001,<br />
S. 11 f. unter Bezug auf die Entscheidungsgründe von BVerfGE 88,<br />
203 ff.<br />
183 Bodden-Heidrich et al. 1998, S. 15 ff.<br />
diesem Stadium noch gegebene Möglichkeit der Mehrlingsbildung<br />
zum Anlass nimmt, die Individualität des<br />
durch die Verschmelzung von Ei- und Samenzelle entstandenen<br />
Embryos zu leugnen, verwechselt Individualität<br />
mit Singularität.<br />
Diese verfassungsrechtliche Festlegung zum Beginn<br />
menschlichen Lebens ist gleichzeitig der Ausgangspunkt<br />
für die Beantwortung der Frage, inwieweit und ab wann<br />
für den Embryo in vitro auch die Menschenwürdegarantie<br />
nach Artikel 1 Abs. 1 GG ihre normative Wirkung entfaltet.<br />
Inhalt und Reichweite der in Artikel 1 Abs. 1 GG garantierten<br />
Menschenwürde als grundrechtlicher Gewährleistung<br />
erschließen sich nicht von selbst, sondern bedürfen<br />
der Konkretisierung.<br />
Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes<br />
ist die Menschenwürde<br />
„der soziale Wert- und Achtungsanspruch ....,<br />
der es verbietet, den Menschen zum bloßen Objekt<br />
des Staates zu machen oder ihn einer Behandlung<br />
auszusetzen, die seine Subjektqualität<br />
prinzipiell infrage stellt. Menschenwürde in<br />
diesem Sinne ist nicht nur die individuelle<br />
Würde der jeweiligen Person, sondern die<br />
Würde des Menschen als Gattungswesen. Jeder<br />
besitzt sie, ohne Rücksicht auf seine Eigenschaften,<br />
seine Leistungen und seinen sozialen<br />
Status. Sie ist auch dem eigen, der aufgrund seines<br />
körperlichen oder geistigen Zustands nicht<br />
sinnhaft handeln kann. Selbst durch „unwürdiges“<br />
Verhalten geht sie nicht verloren“. 184<br />
Alle Menschen, unabhängig von ihren individuellen<br />
Merkmalen und Fähigkeiten, sind damit Träger der Menschenwürde.<br />
Eine Unterscheidung zwischen Mensch und<br />
Person ist verfassungsrechtlich nicht möglich. Menschenwürde<br />
ist ein Status, der allen Menschen als solchen zukommt<br />
und nicht verliehen wird. Der Schutz der Menschenwürde<br />
erstreckt sich demnach auch auf den<br />
menschlichen Embryo. Alle anderen Zäsuren wären willkürlich<br />
und interpretationsbedürftig. Gerade bei hochrangigen<br />
Rechtsgütern ist nach der Rechtsprechung des<br />
Bundesverfassungsgerichts in Zweifelsfällen diejenige<br />
Auslegung zu wählen, welche die rechtliche Wirkkraft der<br />
Grundrechtsnorm am stärksten entfaltet. 185<br />
Das Bundesverfassungsgericht hat zudem in seinen beiden<br />
Urteilen zur Fristenregelung beim Schwangerschaftsabbruch<br />
ausgeführt: „Wo menschliches Leben existiert,<br />
kommt ihm Menschenwürde zu ... Die von Anfang an im<br />
menschlichen Sein angelegten potentiellen Fähigkeiten<br />
genügen, um die Menschenwürde zu begründen“. 186 Diese<br />
Aussage enthält zum einen eine Absage an ein Würdeverständnis,<br />
das erst ab einem bestimmten physischen, psychischen<br />
oder moralischen Entwicklungsstadium bzw. Reifegrad<br />
jemandem den Schutzanspruch des Artikel 1 Abs. 1<br />
184 BVerfGE 87, 209 (228).<br />
185 BVerfGE 32, 54 (71); 39, I (38); 48, 376 (388).<br />
186 BVerfGE 39, I (41) und 88, 203 (252).