Teil II - Jürgen Ritsert
Teil II - Jürgen Ritsert
Teil II - Jürgen Ritsert
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
Beobachterstandpunkt aus gefällte und zugleich zutreffende“ – Urteile über das<br />
Seelenleben anderer Menschen fällen? Im Alltag machen wir das doch dauernd<br />
und weitgehend bedenkenlos! Wie kann die Psychoanalyse objektive (=<br />
zutreffende) Urteile über das Seelenleben des Patienten fällen? Anhand von<br />
Symptomen (das wären äußere Anhaltspunkte im Sinne der ersten Stellung des<br />
Gedankens) und/oder anhand von Interpretationen des Subtextes im Text des<br />
Analysanden? Nach Nagel verlangt die Dezentrierung bei Urteilen über geistige<br />
Vorgänge bei anderen Menschen die stillschweigende Annahme, dass ich selbst<br />
eine Perspektive auf das Geschehen draußen habe, die sich vielleicht mit den<br />
Gesichtspunkten anderer Akteure deckt, sich davon aber auch einschneidend<br />
unterscheiden kann. Ohne diese Annahme könnten wir gar nicht so munter und<br />
selbstverständlich kommunizieren, wie wir es ständig hinbringen. Gewiss:<br />
Damit verschwindet nicht das Problem der Vielfalt, der Totalität aller möglichen<br />
Perspektiven auf die gleichen Sachverhalte samt allen Schwierigkeiten, sie zu<br />
bewerten, also in eine Rangordnung ihrer Stichhaltigkeit und/oder Brauchbarkeit<br />
zu bringen. Wir arbeiten geradezu unter der kontrafaktischen Prämissen, im<br />
Prinzip könnten wir eine Verbindung zu allen menschenmöglichen Perspektiven<br />
herstellen:<br />
„Die erste Stufe in der Objektivierung des Geistigen (der Untersuchung<br />
geistiger Phänomene „drinnen“ – J.R.) besteht für jeden von uns in der<br />
Fähigkeit, die Idee aller menschenmöglichen Perspektiven zu erfassen,<br />
ohne dass sie dabei ihren Charakter als Perspektiven verlieren.“ 39<br />
„Aspektstrukturen“ oder „Perspektiven“ bleiben gleichwohl selektive<br />
Blickwinkel von Personen und/oder Gruppen auf Sachverhalte und ihre<br />
Merkmale. Die gesamte Kritik des Perspektivismus an dem mit der ersten<br />
Stellung des Gedankens verbundenen erkenntnistheoretischen Absolutismus<br />
zielt offensichtlich auf dessen Grundsatz, es könne nur die eine und absolut<br />
wahre Möglichkeit geben, eine Gegebenheit zu erfahren, zu denken und/oder<br />
darzustellen. Der erkenntnistheoretische Absolutismus ist nicht haltbar.<br />
Deswegen muss aber auch der Relativismus nicht das letzte Wort sprechen. Der<br />
Perspektivismus (Relationismus) muss nicht im gleichen Topf wie der<br />
Relativismus verrührt werden! Es gibt nun einmal verschiedene Möglichkeiten,<br />
den gleichen Sachverhalt zu untersuchen und zu erklären. Je nach den<br />
erkenntnisleitenden Interessen stehen verschiedene Wege offen, z.B.<br />
verschiedene begriffliche Systeme zur Klassifikation der gleichen Phänomene<br />
zu konstruieren, die ihrem jeweiligen Zweck durchaus gerecht werden können.<br />
Aber die Schwierigkeiten mit „Objektivität“ als Wahrheit bleiben natürlich<br />
weiterhin bestehen: Die verschiedenen Perspektiven auf den nämlichen<br />
Gegenstand der Betrachtung können gleichermaßen wahr oder brauchbar,<br />
gleichermaßen falsch oder unbrauchbar sein.<br />
39 A.a.O.; S. 20.<br />
21