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Teil II - Jürgen Ritsert

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Beobachterstandpunkt aus gefällte und zugleich zutreffende“ – Urteile über das<br />

Seelenleben anderer Menschen fällen? Im Alltag machen wir das doch dauernd<br />

und weitgehend bedenkenlos! Wie kann die Psychoanalyse objektive (=<br />

zutreffende) Urteile über das Seelenleben des Patienten fällen? Anhand von<br />

Symptomen (das wären äußere Anhaltspunkte im Sinne der ersten Stellung des<br />

Gedankens) und/oder anhand von Interpretationen des Subtextes im Text des<br />

Analysanden? Nach Nagel verlangt die Dezentrierung bei Urteilen über geistige<br />

Vorgänge bei anderen Menschen die stillschweigende Annahme, dass ich selbst<br />

eine Perspektive auf das Geschehen draußen habe, die sich vielleicht mit den<br />

Gesichtspunkten anderer Akteure deckt, sich davon aber auch einschneidend<br />

unterscheiden kann. Ohne diese Annahme könnten wir gar nicht so munter und<br />

selbstverständlich kommunizieren, wie wir es ständig hinbringen. Gewiss:<br />

Damit verschwindet nicht das Problem der Vielfalt, der Totalität aller möglichen<br />

Perspektiven auf die gleichen Sachverhalte samt allen Schwierigkeiten, sie zu<br />

bewerten, also in eine Rangordnung ihrer Stichhaltigkeit und/oder Brauchbarkeit<br />

zu bringen. Wir arbeiten geradezu unter der kontrafaktischen Prämissen, im<br />

Prinzip könnten wir eine Verbindung zu allen menschenmöglichen Perspektiven<br />

herstellen:<br />

„Die erste Stufe in der Objektivierung des Geistigen (der Untersuchung<br />

geistiger Phänomene „drinnen“ – J.R.) besteht für jeden von uns in der<br />

Fähigkeit, die Idee aller menschenmöglichen Perspektiven zu erfassen,<br />

ohne dass sie dabei ihren Charakter als Perspektiven verlieren.“ 39<br />

„Aspektstrukturen“ oder „Perspektiven“ bleiben gleichwohl selektive<br />

Blickwinkel von Personen und/oder Gruppen auf Sachverhalte und ihre<br />

Merkmale. Die gesamte Kritik des Perspektivismus an dem mit der ersten<br />

Stellung des Gedankens verbundenen erkenntnistheoretischen Absolutismus<br />

zielt offensichtlich auf dessen Grundsatz, es könne nur die eine und absolut<br />

wahre Möglichkeit geben, eine Gegebenheit zu erfahren, zu denken und/oder<br />

darzustellen. Der erkenntnistheoretische Absolutismus ist nicht haltbar.<br />

Deswegen muss aber auch der Relativismus nicht das letzte Wort sprechen. Der<br />

Perspektivismus (Relationismus) muss nicht im gleichen Topf wie der<br />

Relativismus verrührt werden! Es gibt nun einmal verschiedene Möglichkeiten,<br />

den gleichen Sachverhalt zu untersuchen und zu erklären. Je nach den<br />

erkenntnisleitenden Interessen stehen verschiedene Wege offen, z.B.<br />

verschiedene begriffliche Systeme zur Klassifikation der gleichen Phänomene<br />

zu konstruieren, die ihrem jeweiligen Zweck durchaus gerecht werden können.<br />

Aber die Schwierigkeiten mit „Objektivität“ als Wahrheit bleiben natürlich<br />

weiterhin bestehen: Die verschiedenen Perspektiven auf den nämlichen<br />

Gegenstand der Betrachtung können gleichermaßen wahr oder brauchbar,<br />

gleichermaßen falsch oder unbrauchbar sein.<br />

39 A.a.O.; S. 20.<br />

21

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