Das Tier in der Religion, mit hundertzwei Abbildungen

DIE SCHLANGE. In einigen Fällen wird sie
mit dem Drachen verwechselt, und wenn z.
B. eine sehr bösartige Frau in eine riesige rote
Schlange verwandelt wird, so handelt es sich
um dasselbe, wie wenn wir eine ebensolche
Frau einen Drachen nennen.
Der Drache ist, wie wir gesehen haben, das
Tier, das, aus Sümpfen und Urwäldern gebo-
ren, bis zum Himmel aufsteigt und die Sonne
mit BHtz und Donner bekämpft. Da nun die
Sonne der junge männliche Held ist, so ver-
steht es sich ganz von selbst, daß die früh-
Hngsfrische Erde seine Gemahlin ist, aber die
finstere Zeit großer Feuchtigkeit und Gewit-
ter ist seine Schwiegermutter, und deshalb ist
auch bei uns die Beziehung zwischen Schwie-
germutter und Drachen leer geworden.
Menschen werden in eigentUche Schlangen
fast nur auf der Flucht verwandelt.
Eine Schlange mit neun Menschenköpfen
kommt ebenfalls in chinesischen Sagen vor.
Sie wird wohl der herkulischen Lerna ent-
sprechen. Ihre Farbe ist blau, und ich möchte
annehmen, daß die neun Menschenköpfe neun
Mondköpfe sind und daß es sich genau wie
bei der Lerna um eine große Flutwelle han-
delt, die an verschiedenen Stellen in einem
Lande über alle Grenzen und Deiche bricht.
Wo immer ein Haupt abgeschlagen wird, ent-
steht ein Neues, und nur mit Hilfe des Feuers
oder der Sonne, das heißt durch einen Um-
schlag des Wetters und einsetzende Dürre ist
es möglich, die Fluten zu bannen.
Es kommt vor, daß Frauen statt der Kinder
oder mit ihnen zugleich Schlangen zur Welt
bringen. Es ist das für die Chinesen ein be-
sonderes Glückzeichen und die Kinder ge-
langen zu hohen Würden. Ich möchte aber
annehmen, daß es Kinder sind, die ein Schlan-
genzeichen mit zur Welt bringen, das auf Un-
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sterblichkeit deutet. Die Vorzeit betrachtet
die neugeborenen Kinder sehr genau, und die
Prognose, die den Kindern von den Nomen
gestellt wird, beruht hauptsächlich auf sol-
chen Zeichen, die auch zweifellos bei scharfer
Beobachtung außerordentHch viele richtige
Schlüsse über die Entwicklung zulassen.
VÖGEL. Viele Vögel haben nach Meinung der
Chinesen ein sehr großes Alter, und es heißt
von ihnen, daß sie, sobald sie tausend Jahre
erreicht haben, ein Menschengesicht anneh-
men können. Es ist keine Frage, daß alte Vö-
gel, Eulen, Adler, Papageien etc., sehr merk-
würdig menschliche Gesichter annehmen kön-
nen, und die Sagen aller Völker legen den al-
ten Vögeln eine besondere Weisheit zu.
Unsere bekannteste Schwanensage findet sich
fast vollständig auch in China. Ein Mann über-
rascht eine Anzahl Mädchen beim Bade. Sie
haben ihre Federkleider abgelegt. Es gelingt
ihm, eines der Federkleider zu erfassen, zu
verbergen, und als die Mädchen sich entdeckt
sehen, fliegen sechs von ihnen als Vögel auf,
während die letzte, die ihr Kleid nicht findet,
zurückbleibt und von dem Mann zur Frau genommen
wird. Er hat von ihr drei Töchter, die
eines Tages das Federkleid der Mutter wieder-
finden, die dann fortfhegt und nach einerWeile
auch ihre Töchter holt. Ich glaube bestimmt,
daß ein Sternbild die Grundlage zu diesem
Märchen gegeben hat, das in anderem Zusam-
menhang ausführlicher zu behandeln wäre.
Von den Vögeln spielt der Hahn bei den Chi-
nesen eine besonders große Rolle. Ein Mann
stirbt. In der Unterwelt befragt ihn der Haus-
hahn in der Gestalt eines Richters, findet sei-
nen Herrn unschuldig und entläßt ihn wieder
zum Leben.
Besonders häufig wurden gemordete und zu
früh gestorbene Menschen bei ihren Verwand-