Lutetia Stubbs - Matthias Czarnetzki
Lutetia Stubbs - Matthias Czarnetzki
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sechs Fuß tiefer verrottete. Hätte <strong>Lutetia</strong> dem geglaubt,<br />
was sie las, wäre Borough eine Fabrik für die Reliquien<br />
künftiger Generationen. Nach ihrer Erfahrung dagegen<br />
musste es sich bei den Gebeinen unter ihren Füßen um<br />
die größte Ansammlung abgebrühter und gewissenloser<br />
Halsabschneider, Geizkragen, Betrüger und Diebe handeln,<br />
die im Land zu finden war - mit anderen Worten: die<br />
Mittelschicht einer ganz normalen Kleinstadt.<br />
<strong>Lutetia</strong> wanderte langsam durch den Wald steingewordener<br />
Trauer. Sie schätzte Kunst - zumindest die Art, die sie<br />
hier vorfand - und hatte im Lauf der Zeit ein Auge dafür<br />
entwickelt. Auserlesenere Werke der Bildhauerkunst waren<br />
nicht einmal im Louvre zu finden. Dafür schaffte etwas,<br />
das sie eher unterbewusst wahrnahm, wenige Augenblicke<br />
später den Sprung in ihre Gedanken. Sie schloss die Augen<br />
und überprüfte jeden Grabstein in ihrer Erinnerung und<br />
tatsächlich: es schien in Borough keine normalen Leute<br />
zu geben. Die Gräber, die sie gefunden hatte, gehörten<br />
Fabrikbesitzern, Kaufleuten, Unternehmern, Handwerkern,<br />
Ärzten, Oberstudienräten und was auch immer. Aber anscheinend<br />
gab es keine Verkäufer, Angestellten, Arbeiter,<br />
Lehrer, Beamte - kleine Leute, die einfach nur ihrer Arbeit<br />
nachgingen und dafür sorgten, dass diese kleine Stadt<br />
funktionierte. Sie fragte sich, wo deren Gebeine landeten.<br />
<strong>Lutetia</strong> hatte etwas gegen Klassenunterschiede, begünstigt<br />
durch den Umstand, dass ihre Familie genug Geld hatte,<br />
ihr die Freiheit solcher Gedanken zu gewähren.<br />
Hier stand sie vor einem logistischen Rätsel. Immerhin<br />
bestand die Bevölkerung einer Stadt zu mindestens fünfzig<br />
Prozent aus ≫dem kleinen Mann≪. Eine derartige Menge<br />
Leichen konnte sich nicht in Luft auflösen. Nicht in Luft,<br />
korrigierte sie sich nach einem weiteren Rundblick, aber in<br />
Rauch. Nein, das war kein zweiter Kirchturm. Inzwischen<br />
war sie an der Westmauer angelangt. Während die übrigen<br />
drei Seiten aus den pompösen Grabmälern bedeutender,<br />
reicher und in den meisten Fällen ausgestorbener Familien<br />
bestand, war diese Mauer nackt und leer. Nicht einmal Blumen<br />
lagen da, keine Kränze, keine Schleifen, keine Kerzen.<br />
Nur eine einzige Statue, die <strong>Lutetia</strong>s Interesse fesselte. Es<br />
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