Siddhartha. Eine indische Dichtung.pdf
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gend sah sie ihn an, und er sah in ihren Augen das Leben<br />
erlöschen. Als der letzte Schmerz ihr Auge erfüllte<br />
und brach, als der letzte Schauder über ihre Glieder<br />
lief, schloß sein Finger ihre Lider.<br />
Lange saß er und blickte auf ihr entschlafenes Gesicht.<br />
Lange betrachtete er ihren Mund, ihren alten,<br />
müden Mund mit den schmal gewordenen Lippen,<br />
und erinnerte sich, daß er einst, im Frühling seiner<br />
Jahre, diesen Mund einer frisch aufgebrochenen Feige<br />
verglichen hatte. Lange saß er, las in dem bleichen Gesicht,<br />
in den müden Falten, füllte sich mit dem Anblick,<br />
sah sein eigenes Gesicht ebenso liegen, ebenso<br />
weiß, ebenso erloschen, und sah zugleich sein Gesicht<br />
und das ihre jung, mit den roten Lippen, mit dem<br />
brennenden Auge, und das Gefühl der Gegenwart und<br />
Gleichzeitigkeit durchdrang ihn völlig, das Gefühl der<br />
Ewigkeit. Tief empfand er, tiefer als jemals, in dieser<br />
Stunde die Unzerstörbarkeit jedes Lebens, die Ewigkeit<br />
jedes Augenblicks.<br />
Da er sich erhob, hatte Vasudeva Reis für ihn bereitet.<br />
Doch aß <strong>Siddhartha</strong> nicht. Im Stall, wo ihre Ziege<br />
stand, machten sich die beiden Alten eine Streu zurecht,<br />
und Vasudeva legte sich schlafen. <strong>Siddhartha</strong><br />
aber ging hinaus und saß die Nacht vor der Hütte,<br />
dem Flusse lauschend, von Vergangenheit umspült,<br />
von allen Zeiten seines Lebens zugleich berührt und<br />
umfangen. Zuweilen aber erhob er sich, trat an die<br />
Hüttentür und lauschte, ob der Knabe schlafe.<br />
Früh am Morgen, noch ehe die Sonne sichtbar<br />
ward, kam Vasudeva aus dem Stalle und trat zu seinem<br />
Freunde.<br />
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